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Die Vornamen Noah und Emilia, liebevoll auf Textil gemalt.
Legende: Zwei Vornamen, eine Gemeinsamkeit: Beiden fehlt der bestimmte Artikel. Ein Trend? Keystone / VIOLA LOPES

Mundart im Wandel Verlieren unsere Vornamen das gewisse Etwas?

Emilia statt «d Emilia», kein «dä» mehr vor einem Noah: Verschwinden die Artikel vor Vornamen? Fast eine Verlustanzeige.

«Bisch au für Schwiiz?» Meine redseligen Racker und ihre Fussballfreunde stellen vor Spielen der Nationalmannschaft dauernd dieselbe Frage. «Nein», antworte ich stets, «aber ich bin für den Einsatz des bestimmten Artikels. Richtiger wäre die Frage gewesen: Bisch für d Schwiiz?»

Immerhin sind meine Kleinen konsequent. Sie wären auch «für FC Zürich», müssten sie nicht «für dä FC Sanggalle» sein wie der humorlose Herr Papa. Für FCZ? Auch hier fehlt doch etwas, Buben. Partie läuft, die Frage steht im Raum: Was soll bitte dieses Sprachspiel?

Lia und die Legos

Zu der «die»-losen Schweiz hat die Linguistin Melanie Bösiger keine Daten gesammelt. Sie ist jedoch einem verwandten Verschwinden auf der Spur: jenem des bestimmten Artikels, den man im Schweizerdeutschen Vornamen beizustellen pflegt.

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«Gägäwärt» war gewaltig!
aus Dini Mundart - Schnabelweid vom 19.05.2022. Bild: zvg
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Lange war es normal, dass «dä Rémy und dä Emil Radau mached». Neuerdings hört man auf Pausenplätzen oder im Pub, im Zug oder Zoo Sätze der sonderbaren Sorte: «Mia goht mit Lia go legöle.» Der grosse Abwesende: ein kleiner Artikel.

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Der «alleinstehende» Vorname ist in der Schweiz kein Unbekannter. Verbreitet war und ist er im Berner Oberland und Emmental, in Teilen des Freiburgischen und einigen Bündner Bergregionen. Aber wie kommt es, dass der bestimmte, in der Fachsprache «onymisch» genannte Artikel auch in Zürich auf dem Rückzug ist, wo «dä Paul und d Paula» lange die Norm war?

Der Balkanslang ist nicht der Bad Boy

Dass die Dialekte die Schweiz erobern, denen der ominöse onymische Artikel schon immer fehlte: Bösiger hat gut begründete Bedenken. «Unbegleitete» Vornamen seien nicht nur in unmittelbarer Nähe der «Kerngebiete» zu beobachten, sondern in der gesamten Deutschschweiz.

Die Linguistin mag diesen Umstand auch nicht der Sprachmacht des Hochdeutschen in die Schuhe schieben, das den Vornamen-Artikel nur in Ausnahmefällen kennt. Ebenso wenig hat Bösiger den «Balkanslang» im Verdacht, der im Sinne einer radikal-rustikalen Reduktion nicht nur den Artikel ausholzt. Stichwort: «Gömmer Coop.»

Das Phänomen, so hat es die Linguistin in einer breit angelegten Studie nachgewiesen, sei zu quer durch alle Altersgruppen zu beobachten und in sämtlichen sozialen Schichten zuhause.

Ein Wort zur Gleichberechtigung

Sprech-ökonomische Gründe mögen da eine Rolle spielen. «Bei Tanja zum Beispiel höre ich nicht, ob jemand ‹Tanja› oder ‹d Tanja› sagt, weil der Artikel im Klang des T verschwindet», sagt Melanie Bösiger.

Was sich sicher sagen lasse: Der bestimmte Artikel vor Vornamen habe keine Funktion, die einen Mehrwert liefere, und genau deshalb brauche es ihn nicht. Sagt jemand «Anna» oder «d’Anna», weiss das Gegenüber: Da geht’s um etwas Weibliches. Danke, reicht.

Mit den Frauen wird es langsam spannend. Während Männer stets mit dem männlichen Artikel «de» benannt werden, gab und gibt es bei Frauen die Wahl zwischen «'s Emma» und «d Emma».

Bösigers These: Weil das Neutrum im Zuge der Gleichberechtigung mehr und mehr verschwinde, werde der bestimmte Artikel überflüssig. Denn bei Männern indiziere er Männlichkeit und bei Frauen Weiblichkeit – eine Information, die in den Vornamen schon enthalten ist und ein Artikel nur verdoppele.

Das Ende eines Sonderfalls

Anschlussfrage: Wäre der bestimmte Artikel nicht wieder gefragt, wenn gender-sensitive Eltern ihre Tochter «Toni» nennen und das Söhnchen «Cléo»? Würde der bestimmte Artikel nicht die Eindeutigkeit schaffen, die der verwegene Vorname verwischt?

Einwand Bösiger: «Warum soll man mit dem Artikel wieder jene Geschlechtergrenze ziehen, die man mit dem Namen einzureissen sich anschickt?» Nette Nebenwirkung: Der Wegfall des bestimmten Artikels macht auch den Umgang mit non-binären Menschen einfacher, den man korrekterweise bereits jetzt weglässt, wenn man auf Schweizerdeutsch über sie spricht.

Und was sagen wir den Fussballfreunden, die fest «für Schwiiz» sind? Vielleicht, was Melanie Bösiger über Vornamen generell sagt: Sie sind ein Sonderfall. Denn die Wahrheit ist ja auch: Kein Mensch muss «für d’Schwiiz» sein. Aber Herr und Frau Deutschschweizer sind seit Urzeiten «für Frankriich», «Spanie» oder «Dütschland». Ob sie es nun merkten oder nicht.

Radio SRF 1, Schnabelweid, 19.5.2022, 20:00 Uhr

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