«Der Mensch ist bestimmt durch sein Schicksal», sagte Myrthe Dreyfuss-Kahn vor vier Jahren im Interview mit SRF. Ihr Schicksal war es, für Gerechtigkeit einzustehen – und für geflüchtete Menschen. «Was ich als Kind erlebt habe, hat mich für mein Leben geprägt.»
Den Grossvater aus dem KZ gerettet
Myrthe Dreyfuss-Kahn war fünfjährig, als Adolf Hitler in Deutschland die Macht an sich riss. Der Vater riet ihr, mit niemandem über ihr Jüdischsein und die Vorgänge in Deutschland zu sprechen. Das war eine erste Zäsur für das wohlbehütete Einzelkind aus gutbürgerlichem Elternhaus in Basel. Die nächste: Der Grossvater, der in Nazi-Deutschland lebte, wurde ins Konzentrationslager Dachau abtransportiert.
Dreyfuss-Kahns Eltern gelang es, den Grossvater nach Basel zu holen. Weil die Grosseltern die Stadt nicht verlassen durften, blieb die Familie in Basel – trotz der Angst, die Nationalsozialisten könnten bald einmarschieren. «Von den 42 Schülerinnen und Schülern in meiner Klasse waren bald nur noch zwölf übrig», erzählt Myrthe Dreyfuss-Kahn 2020. «Alle anderen waren weggezogen.»
Engagement beim Roten Kreuz
Die damals 91-Jährige erinnerte sich glasklar an die Kriegszeit. Wie die Nachbarn bei der Familie Kahn im Wohnzimmer BBC hörten, weil die Familie als eine von wenigen ein Radio besass. Wie der Grossvater nach der Zeitungslektüre schreckensbleich zurückblieb, weil er von der Vernichtung der Jüdinnen und Juden in Deutschland erfahren hatte. Und wie die Familie immer wieder jüdische Flüchtlinge auf der Durchreise in die USA aufnahm.
Diese Erfahrungen prägten sie. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges engagierte sie sich bereits für Flüchtlinge beim Roten Kreuz. Dann ging sie zum Studium in die USA, obwohl ihr Vater sie nach England schicken wollte. Das Geld für ihr Leben in den USA musste sich die junge Frau selbst verdienen – und präsentierte holländischen Käse, wie sie Jahrzehnte später lachend erzählte.
Vorstandsmitglied bei der Flüchtlingshilfe
Zurück in der Schweiz doktorierte Myrthe Dreyfuss-Kahn über die Frauenerwerbsarbeit, heiratet, hatte drei Kinder. Sie engagierte sich in diversen jüdischen Organisation, war Vorstandsmitglied im Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund und machte sich einen Namen in der Flüchtlingshilfe, sodass sie in den Vorstand der Schweizerischen Flüchtlingshilfe gewählt wurde.
Als sie Anfang der 1990er-Jahre am Radio hörte, dass der Schweizer Flüchtlingshelfer Paul Grüninger rehabilitiert werden soll, griff sie zum Telefon und bot ihre Hilfe an. Mit ihrer jüdischen Stimme, die dem Anliegen Gehör verschaffte, gelang die Rehabilitation. «Das habe ich geschafft», sagte sie auch dreissig Jahre später noch stolz.
Reich erfülltes und langes Leben
Ende der 1990er-Jahre zog sich Myrthe Dreyfuss-Kahn von ihren Ämtern zurück, blieb aber eine kritische Beobachterin des jüdischen Lebens und der Flüchtlingspolitik. Am Montag ist sie nun «nach einem reich erfüllten und langen Leben» verstorben, wie die Familie in der Todesanzeige schreibt. Mit ihr sei eine «Grande Dame des Schweizer Judentums» verstorben, heisst es im Nachruf des jüdischen Magazins «tachles». Eine weitere Zeitzeugin des Zweiten Weltkrieges ist verstummt.