«Jetzt chill' ich erst mal und dann mach' ich nichts», lautet der provokative Titel eines von mehreren neuen Büchern über das Leben nach dem Abitur oder der Matura. (Siehe Box am Ende des Artikels)
Manche junge Erwachsene, die das Reifezeugnis in der Tasche haben, freuen sich auf viel freie Zeit und neue Erfahrungen. Andere dagegen steuern direkt ein bestimmtes Studium an und wollen möglichst schnell von der Schulbank in den Hörsaal wechseln.
«Kognitive Energie versauen»
Die Idee, erst einmal «chillen» zu wollen, komme nicht überall gut an, sagt Albert Düggeli, Professor für pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule der FH Nordwestschweiz.
Chillen stehe unter dem Verdacht, dass da gar nichts mehr laufe, sagt Düggeli. «Dass die jungen Leute nur herumhängen, nichts Gescheites machen, auf keinen grünen Zweig kommen und dabei noch ihre kognitive Energie versauen.»
Doch solche Phasen könnten durchaus «produktiv» und für den weiteren Lebensweg wichtig sein. Denn der Übergang von der Schule ins Studium stellt an die jungen Erwachsenen hohe Anforderungen.
Die Qual der Wahl
Ist die Matura einmal geschafft, stehen in der Schweiz viele Türen offen. Das Studienangebot ist gross, und die Möglichkeiten der Fächerkombinationen sind vielfältig. Da hat die eine schon mal die Qual der Wahl, und der andere weiss nicht, was im anvisierten Studiengang auf ihn zukommt.
Die meisten Maturanden verfügen kaum über Erfahrung in der realen Berufswelt. Nach dem Abschluss gehe es für die jungen Erwachsenen darum, mit offenen Situationen umgehen zu können, sagt Albert Düggeli, neue Erfahrungen zu machen und eigenständige Entscheide zu treffen.
Ausprobieren, was man will
Erst einmal tun sich nach der Matura neue Handlungsräume auf, erst recht in einem eingeschobenen Zwischenjahr. «Ich möchte vielleicht einmal in einem Café arbeiten, Zeitungen austragen, Freiwilligenarbeit leisten, einfach verschiedene Sachen ausprobieren, um herauszufinden, was ich will», sagt die 18-jährige Fina aus Basel und fährt fort: «Für mich ist es bei der Berufswahl sehr wichtig, dass man eine für die Gesellschaft sinnvolle Arbeit macht.»
Es ist ein anspruchsvoller Übergang ins Erwachsenenleben, bei dem es darum geht, einen reflektierten Entscheid zu treffen. Dieser Entscheid sei dann gut, wenn er später weitere Möglichkeiten eröffne und zu einem gelingenden Leben beitrage, sagt der Psychologe Albert Düggeli.
Drei Viertel gehen an die Uni
Fast alle jungen Frauen und Männer wechselten nach der gymnasialen Matura in ein höheres Bildungssystem, stellt Regula Julia Leemann, Professorin für Bildungssoziologie an der Pädagogischen Hochschule der FH Nordwestschweiz fest.
Die meisten, 77 Prozent, wählen eine Universität. Weitere 10 Prozent treten in eine Fachhochschule und 8 Prozent in eine Pädagogische Hochschule ein.
Bei der Wahl des Studiums folgen sie oft ihren Interessen, etwa den Schwerpunktfächern, die sie bereits im Gymnasium bevorzugt haben.
Wenig Chancengleichheit
In der Schweiz erreichen allerdings nur 22 Prozent eines Jahrgangs eine gymnasiale Matura. Viele dieser jungen Erwachsenen stammen aus einem gebildeten und wirtschaftlich gut gestellten Milieu. Töchter und Söhne von Eltern mit tieferem Bildungsstand verfügen über bedeutend schlechtere Chancen, je ein Gymnasium zu durchlaufen und ein Maturazeugnis zu erhalten.
Die Bildungssoziologin Regula Julia Leemann spricht von einer «starken sozialen Selektivität» – ein Umstand, der in der Schweiz im internationalen Vergleich besonders ausgeprägt ist und seit Jahrzehnten kritisiert wird.
Herkunft bestimmt Studium
Auch bei der Studienwahl spiele die soziale Herkunft eine entscheidende Rolle, sagt Regula Julia Leemann weiter: «Wer aus einer benachteiligten sozialen Schicht kommt, wählt eher ein kürzeres Studium, das zu einer Berufsausbildung führt. Bei einer solchen weiss man nachher, welchen Beruf man gelernt hat und ob man damit eine Anstellung findet.»
Diese jungen Erwachsenen studieren deswegen nach der Matura eher an einer Fachhochschule oder Pädagogischen Hochschule als an einer Universität. Denn mit dem Bachelor können sie bereits nach drei Jahren einen Studienabschluss vorweisen, der sie zur Berufsausübung qualifiziert.
Im Gegensatz dazu wählen Töchter und Söhne aus einem gebildeten und wirtschaftlich gut gestellten Elternhaus eher ein langes Studium wie etwa Medizin. Und sie lassen sie sich öfter auf Fächer wie Medienwissenschaften, Gender Studies, Urbanistik oder Kunstgeschichte ein, die nicht direkt auf eine konkrete berufliche Tätigkeit ausgerichtet sind.
«Eltern sollen begleiten»
Die Eltern spielen im Hintergrund also eine gewisse Rolle – nur schon, wenn es um die Finanzierung des Studiums geht. Da ist es naheliegend, dass sie Vorstellungen über den idealen beruflichen Werdegang ihrer Kinder äussern.
Der Psychologe Albert Düggeli geht davon aus, dass sie in diesem Lebensabschnitt nicht mehr erzieherisch wirken, aber eine begleitende Funktion übernehmen können.
Es sei gut, wenn Vater und Mutter weiter «dabei» seien: «Die jungen Erwachsenen sind die Erzähler ihres Daseins. Die Eltern können nachfragen, Interessen teilen, verlässliche Vorbilder sein, respektvoll mit der Autonomie der jungen Erwachsenen umgehen und ihnen Vertrauen schenken. Im Idealfall sind sie Co-Autoren der Lebensgeschichte ihrer Kinder.»