Es gibt ein Internetphänomen, dass die etablierte Verlagskultur in der deutschsprachigen Literaturwelt schon länger aufhorchen lässt. BookToker sind Influencer, die in kurzen TikTok- oder Instagram-Videos erzählen, was ein Buch mit ihnen gemacht hat. Mittlerweile haben diese Lesetipps junger Menschen Platz auf eigenen Verkaufstischen in Buchhandlungen.
Aber greifen junge Menschen dadurch auch öfter zum Buch? Ob sich die in Sozialen Netzwerken emotional erzählten Buchkritiken auch auf das Leseverhalten auswirken, lässt sich in Zahlen bisher nicht darstellen. Aber es gibt ein paar Fakten und Erkenntnisse im Bereich Lesekompetenz, die interessante Rückschlüsse zulassen.
Digitalisierung verändert Lesen und Schreiben
Immer wieder wird die Digitalisierung als eine der grössten Herausforderungen genannt, wenn es um die Lesefähigkeiten junger Menschen geht. In der Schweiz verbringen Jugendliche in ihrer Freizeit drei bis vier Stunden täglich am Smartphone.
Zeit, in der sie sich durch Informationskacheln und untertitelte Videos scrollen oder Emoji-durchtränkte WhatsApp-Nachrichten verschicken. Zeit, in der sie keine Bücher lesen. Keine Frage, das Lese- und Schreibverhalten junger Menschen im Bildungsland Schweiz wandelt sich radikal.
Pisa-Ergebnisse abermals ernüchternd
Nun liegen die Ergebnisse der aktuellen Pisa-Studie vor. Abermals sorgt die schwindende Lesekompetenz für einen Aufschrei. Ein Viertel der 15-Jährigen erreicht das Kompetenzniveau 2 nicht. Das heisst: «Diese Schüler und Schülerinnen sind nicht in der Lage, kurze Texte verstehend zu lesen. Sie können kaum den Gesamtzusammenhang eines Textes erfassen», sagt Didaktikprofessorin Anke Schmitz.
Immer weniger junge Menschen sind demnach in der Lage, Bücher zu lesen. Darunter leidet folglich auch das Schreiben und nicht minder das Denken: «Es geht hier um den Erwerb schriftsprachlicher Kompetenzen, und diese erwerbe ich, indem ich Texte lese», sagt Schmitz, «so erweitert sich der Wortschatz, und im Umgang mit Texten lerne ich etwas über Textintention, Moral und kann teilhaben an der Gesellschaft.»
Sprechen lernen Kinder von den Eltern, Lesen und Schreiben in der Schule. Neben der Digitalisierung benennt die Pisa-Studie Mehrsprachigkeit und den sozioökonomischen Hintergrund als mögliches Hemmnis beim Lesenlernen. «Wenn man alle Faktoren zusammen in einem Modell betrachtet, ist der sozioökonomische Status ausschlaggebend und nicht der Migrationsstatus», sagt Schmitz. An diesen Strukturen könne das Lehrpersonal generell wenig ändern. «Gutes Lehrpersonal kann dafür aktiv die Lesestrategie anregen und die Leseflüssigkeit verbessern», sagt die Professorin der Fachhochschule Nordwestschweiz
Lesen im Unterricht als Hoffnungsträger
Die Bücherauswahl im Schulunterricht kann die Leselust entweder steigern oder dämpfen. Deswegen muss man sich auch die Frage stellen: Was interessiert die heutige Jugend überhaupt?
Der Lehrplan ist hierzulande Kantonsangelegenheit. In Basel, Baselland und Zürich beispielsweise können Lehrpersonen die Lektüre selbst auswählen, solange Lehrplanziele wie verschiedene Epochen und Textarten behandelt werden.
Gemäss Gaudenz Wacker, Sprecher des Erziehungsdepartments Basel, lesen die Gymnasiasten regelmässig Goethes «Faust», Lessings «Nathan der Weise», Christa Wolfs «Kassandra» und «Corpus Delicti» von Juli Zeh. Im Unterricht der Fachmaturitätsschule werden «Ruhm» von Daniel Kehlmann und «Der Vorleser» von Bernhard Schlink häufig durchgenommen. Mit ein paar Ausnahmen die alten Klassiker also.
Coming-of-Age-Romane wecken Interesse
«Es gibt nicht die Bücherliste, die zu 100 Prozent funktioniert», sagt Wolfgang Steffen, Deutsch- und Philosophielehrer an der Atelierschule Zürich. Die Pisa-Ergebnisse bemerkt er im Unterricht deutlich: «Die jungen Menschen sind sehr unbelesen», sagt Steffen, «die Klassiker der Moderne, aber auch andere Bücher – ich kann eigentlich nichts voraussetzen.»
Interesse und Freude am Lesen sind vor allem eine Frage der Materie. «Die Schüler und Schülerinnen fragen mich: ‹Was hat das mit mir zu tun?›», sagt Steffen. Deswegen kämen Jugendromane wie «Nichts – Was im Leben wichtig ist» von Janne Teller in der 10. Klasse und Coming-of-Age-Romane wie «Hard Land» von Benedict Wells in der 11. Klasse besonders gut an.
Philippe Wampfler, Deutschlehrer an der Kantonsschule in Zürich und Dozent für Fachdidaktik Deutsch an der Universität Zürich, spricht von einer «ästhetischen Erfahrung», die die jungen Menschen beim Lesen machen sollten. «Die Schüler und Schülerinnen müssen die Handlung nachvollziehen können», sagt Wampfler, «und gleichzeitig muss es eine kleine Herausforderung geben, aber es darf niemals überfordern.»
Wampfler plädiert für kürzere Texte, die schnell gelesen sind und die dann diskutiert werden können. «Man kann auch viel mit Blogeinträgen, Graphic Novels oder mit Reise- oder Erlebnisberichten machen, die Jugendliche interessieren», meint auch Didaktikprofessorin Schmitz.
BookToking als neuer Literaturzugang
Zur Lieblingslektüre des Basler BookTokers Josia Jourdan gehören zum Beispiel «Echtzeitalter» von Tonio Schachinger. «Ein Roman nahe an der Lebensrealität der Generation Z, unaufgeregt und doch packend erzählt. Schultrauma, Erwachsenwerden, Gaming», so beschreibt Jourdan auf TikTok die Coming-of-Age-Erzählung des österreichischen Schriftstellers. Aber auch Mystery-Romane, queere Geschichten und Gedichte sind Teil seines Repertoires.
Es sei Literatur, die er auf TikTok, aber auch in Zeitungen und im Radio vermisse. «Junge Literatur, die sprachlich interessant ist und nicht nur auf Unterhaltung aus ist», sagt der 21-Jährige. Die Frage ist nur: Ist es das, was junge Menschen brauchen, um sich für Literatur und dadurch für das Lesen begeistern?
Kommentare, private Nachrichten, Verlinkungen und vor allem das Abspeichern seiner Videos als Merkzettel zeigen Jourdan, dass andere Menschen sich für seinen Buchgeschmack interessieren. «Ein grosser Austausch ist aufgrund der begrenzten Kommentarfunktion auf TikTok aber nicht möglich», gibt Jourdan zu bedenken.
Das heisst, richtige Rückschlüsse auf das Nutzerverhalten kann man nicht ziehen. Letztlich ist es auch schwierig zu ermitteln, ob die Bücher nur gerne gekauft – zum Beispiel aufgrund der Optik – oder auch gerne gelesen werden. «Ich denke, BookToking spricht einfach eine bestimmte Art von Menschen an, die eine gewisse Affinität zum Lesen haben und die Inszenierung der BookToker spannend finden», sagt der Deutschdidaktiker Wampfler.
Literatur zwischen Hoch- und Popkultur
Damit spricht er zwei wichtige Phänomen an. Erstens zeigt Wampfler auf, was Literatur schon immer war: Je nach Genre eine bestimmte (intellektuelle) Blase. Zwar haben die meisten Menschen in ihrer Schulzeit Literaturklassiker durchgenommen, doch die wenigstens identifizieren sich damit, dass sie diese Bücher im Regal stehen haben, sie lesen und darüber sprechen.
Und zweitens zieht die Ästhetik von BookToking – direkte Ansprache, subjektive Empfindungen, ein durch und durch nahbarer Rezensent eben – eine bestimmte Zielgruppe an. Und es geht tatsächlich auch oft um das bunte Buchcover und die schöne Typografie.
«Ich glaube, dass viele auf diese neue Form der Buchkritik gewartet haben», sagt Jourdan. Die Social-Media-Affinen seiner Generation würden diese Videos genauso aufsaugen wie ältere Menschen, die sich über Empfehlungen freuen, für die man «keinen akademischen Abschluss braucht».
Eine grosse Rolle spiele auch die persönliche Identifikation mit den BookTokern. «Man vertraut eben den Creatorn, die man persönlich zu kennen scheint und interessant findet», sagt Jourdan. Er selbst glaubt nicht, dass es die Heilung «unserer nicht lesenden Jugend» ist, aber: «Ich glaube, dass Lesen dadurch wieder etwas Cooles darstellt.»
Zwar bieten diese Buchrezensionen einen schnellen und interessenorientierten Überblick – ein neuer Zugang zur Literatur ist dadurch sicherlich gesetzt –, doch Bücher lesen sich so nicht einfacher.
Geht es um Leseförderung und um einen gerechteren Zugang zum Lesen, dann geht es vor allem um die 25 Prozent der Schweizer Jugendlichen, die kaum einen Text verstehen können. «Jemand, der gar nicht liest, stösst nicht einfach so auf BookToking und fängt dann an zu lesen», sagt Wampfler.
Wie überzeugt man die Jugend vom Lesen?
Aber ob kantonal organisierte Bibliotheksbesuche und alljährliche Lesewochen sich vom verstaubten Image lösen und die Leselust entfachen können, bleibt auch fraglich. Doch die Motivation steht oft auch gar nicht an erster Stelle.
«Aktuell schaut man sich vor alle die Förderung von Leseflüssigkeit an, wodurch das Selbstvertrauen im Umgang mit Texten und wiederum die Lesemotivation gesteigert werden soll», sagt Schmitz. Die Deutschlehrer Steffen und Wampfler lassen ihre Schüler und Schülerinnen im Unterricht regelmässig laut lesen. «Ich gebe die ganze Lernstunde dann als Hausaufgabe», sagt Wampfler. Gleichzeitig hofft er auch auf einen digitalen Weg, junge Menschen zum Lesen zu bringen. Ob das BookToking ist, bleibt fraglich. Aber vielleicht schaffen es ja bald TikTok-Bestseller in den Unterricht.