Dass der deutsche Philosoph Thomas Meyer mit seiner Biografie von Hannah Arendt neue Wege beschreitet, wird der Leserin des über 500 Seiten starken Buches bald klar. Die bekannten Anekdoten tauchen nicht auf, auch findet man keine Erinnerungen und Zeitzeugenberichte über die 1975 verstorbene grosse politische Theoretikerin.
Meyer hat sich rigoros und ausschliesslich an im Archiv zu findende Erkenntnisse gehalten und damit die erste auf Archivrecherchen beruhende Biografie Arendts überhaupt verfasst.
Wieso aber ist dies erst fast 50 Jahre nach Arendts Tod der Fall? Meyer hat dafür verschiedene Erklärungen. Das Archiv sei klassischerweise nicht der Ort, an dem Philosophen tätig wären. Vor allem aber habe Arendt inzwischen als Denkerin des 20. Jahrhunderts eine Übergrösse erreicht, dass man sich bisher vielleicht an die Materialfülle nicht heranwagte. Zudem hätte man auch nicht damit gerechnet, es könne überhaupt noch Neues über Hannah Arendt gefunden werden.
Mit 27 Jahren gegen die Nazis
Dass Hannah Arendt aber keineswegs «auserzählt» ist, zeigt die Biografie deutlich. Ein Fund im Jerusalemer Archiv von rund 300 bisher unbekannten Dokumenten etwa, beschreibt insbesondere die Jahre unmittelbar nach Arendts Emigration 1933.
Noch keine 27 war Arendt, als sie aus Deutschland fliehen musste. Eine Verhaftung lag schon hinter ihr. Sie steckte mitten in ihrer Habilitation über Rahel Varnhagen und hatte als Forscherin ihr Thema der Geschichte des modernen Antisemitismus gefunden.
In Paris angekommen, legte sie dann bald entschlossen ihre wissenschaftliche Arbeit zur Seite, um sich mit vollem Einsatz der sogenannten «Jugend-Alijah» zu widmen, der Auswanderung und somit Rettung junger jüdischer Menschen nach Palästina. Sie begleitete einzelne dieser Reisen und versuchte, auch junge osteuropäische Juden, nicht nur deutsche, ins Programm zu holen. Kurz: Sie nahm sechs Jahre lang eine wichtige Rolle in dieser Arbeit ein, die sich der von den Nazis organisierten Vernichtung europäischer Juden entgegenstellte.
Denken und Handeln müssen zusammengehen
Wieso tat sie das? Wieso legte sie als brillante Forscherin ihre Karriere für Jahre zur Seite? Der Grund dafür, so Thomas Meyer im Gespräch, ist auch ein Kernthema von Hannah Arendts Philosophie: Denken und Handeln müssen zusammengehen.
Denken heisse für Hannah Arendt Eingreifen. Und zu dem Zeitpunkt damals war für das europäische Judentum der Moment gekommen, in dem ein Handeln um jeden Preis erforderlich war.
1940, im inzwischen besetzten Frankreich, kam Hannah Arendt selbst ins südfranzösische Lager Gurs, konnte fliehen und lebte ab 1941 im Exil in New York. Auch ihre grössten, von hier aus verfassten Werke, die «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» und 1963 dann «Eichmann in Jerusalem», denken das Grundgebot der Untrennbarkeit von Denken und Handeln weiter.
Neuer Zugang zu Arendt
Ausführlich verfolgt Thomas Meyer in seiner Biografie nicht nur die weitere Entwicklung von Arendts politischer Theorie, sondern auch die weitreichenden Diskussionen, die ihre Arbeit begleiteten – und auslösten. Mit Meyers Buch ist ein grosser Schritt in ein umfassenderes Verstehen der berühmten Denkerin gelungen.