Bei der letzten Bundesratswahl wurde vielerorts ein «Stadt-Land-Graben» beklagt: Sowohl bei der SVP als auch bei der SP gab das Parlament einer Vertretung der ländlichen Schweiz den Vorzug: Elisabeth Baume-Schneider aus dem jurassischen Les Breuleux und Albert Rösti aus dem bernischen Uetendorf schwangen obenauf.
Hat die Stadt das Nachsehen?
Die Medien kritisierten, einheimische Schwarznasenschafe und die «Gmögigkeit» bekämen unverhältnismässig mehr Gewicht als die Stimmen der Industrie und Wissenschaft, die auf städtische Infrastruktur und internationale Kooperation angewiesen wären. Die Kandidierenden aus der Stadt, Hans-Ueli Vogt aus Zürich und Eva Herzog aus Basel-Stadt, hatten das Nachsehen.
Der Politologe Sean Müller von der Universität Lausanne relativiert diese Kritik: «Die mediale Aufregung über die Nicht-Vertretung der Städte im Bundesrat war übertrieben.» Die Städte seien bisher noch gar nie angemessen in der Landesregierung vertreten gewesen. Zudem könnten einzelne Bundesrätinnen und Bundesräte in diesem Kollektivgremium ohnehin nicht die Interessen ihres Herkunftsorts vertreten.
Kompromisse sind schwieriger geworden
Sean Müller hat untersucht, wie sich die grössten Schweizer Städte im föderalen System und in Bundesbern einbringen. Er stellte fest, dass sich Stadt und Land in den letzten 30 Jahren «immer mehr auseinanderbewegt» haben. Dies zeige sich zum Beispiel bei politisch-wirtschaftlichen Fragen wie der europäischen Integration.
Deutlich werde dies auch bei den gesellschaftspolitischen Abstimmungen, etwa bei der gleichgeschlechtlichen Ehe oder der Strafnorm gegen Rassismus. Diese Differenzen hätten sich in den letzten Jahren verfestigt und die politische Landschaft verändert, sagt Sean Müller. Die Parteien seien dadurch stärker auseinandergedriftet: «Das führte dazu, dass es schwieriger geworden ist, Kompromisse zu finden.»
Stadt und Land im «Spannungsfeld»
Auch der Politikwissenschaftler Michael Hermann an der Universität Zürich konstatiert ein zunehmendes «Spannungsfeld». Eine erste repräsentative Befragung der Bevölkerung 2020 und 2021 – der «Stadt-Land-Monitor» – legte starke Abweichungen im Abstimmungsverhalten zwischen Stadt und Land offen. Besonders deutlich wurde dies bei den Urnengängen über die Trinkwasser- und die Pestizid-Initiative.
Diese Tendenz manifestierte sich auch bei der Abstimmung über die Massentierhaltung 2022. Nimmt man jedoch einen grösseren Zeitraum in den Blick und geht bis 1981 zurück, so zeigt sich, dass die Kluft nicht generell, sondern vor allem bei landwirtschaftlichen Themen tiefer wird.
Mehr Menschen sehen einen Graben
Michael Hermann hat nach der letzten Bundesratswahl im Auftrag der landwirtschaftlichen Genossenschaft Fenaco eine weitere Befragung der Schweizer Bevölkerung zum Verhältnis von Stadt und Land durchgeführt. Sie ergab, dass heute zwei Drittel der Befragten der Ansicht sind, dass es in der Schweiz einen grossen Stadt-Land-Gegensatz gibt. Das sind drei Prozent mehr als noch vor zwei Jahren.
Ein verschärftes politisches Klima, gerade wenn es um landwirtschaftliche Themen geht, beobachtet auch Yvonne Koller Renggli. Sie arbeitet beim Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverband und betreibt mit ihrem Mann einen Bauernhof mit Pouletmast und Mutterkuhhaltung im luzernischen Grossdietwil.
Beschimpfungen wegen Gülle
Als Bäuerin erlebe sie willkürliche Angriffe von Leuten, die von der Landwirtschaft nichts verstünden: «Es kommt vor, dass wir von Spaziergängern auf offener Strasse beschimpft werden, wenn wir Gülle ausbringen oder unsere Obstbäume spritzen. Das tut mir im Innern weh.»
In solchen Situationen führe sie das verwendete biologische Spritzmittel vor und erkläre sich. Doch ihre Haut sei angesichts solcher Angriffe «dünner» geworden.
Im Gegensatz zu diesen zunehmenden Konfrontationen beobachtet Yvonne Koller Renggli als Ausbildnerin eher eine gesellschaftliche Annäherung zwischen Stadt und Land: Viele der jungen Frauen, die eine höhere Berufsbildung als Bäuerin absolvieren, kämen aus der Stadt.
Von dort brächten sie eine qualifizierte erste Berufsausbildung mit, ebenso zahlreiche Kontakte: «Diese Frauen treten selbstbewusst auf und erweitern mit ihrem Können den Horizont im landwirtschaftlichen Betrieb. Das tut allen gut.»
Landliebe in der Stadt
Zudem habe sich in den letzten Jahren hier und dort ein Lebensstil etabliert, der Stadt und Land verbinde: Die Schrebergärten boomen, «Urban Gardening» im Hinterhof ist hip. Das Kochen mit einheimischen und saisonalen Produkten gehört heute zum guten Ton.
Trotzdem ist Yvonne Koller Renggli davon überzeugt, dass es Anstrengungen braucht, um die Kluft zwischen Stadt und Land zu überwinden. Sie engagiert sich deshalb in der Stiftung «für eine nachhaltige Ernährung durch die schweizerische Landwirtschaft».
Die Stiftung hat 2021 von der landwirtschaftlichen Genossenschaft Fenaco 10 Millionen Franken bekommen. Dieses Geld soll in Projekte fliessen, die den «Dialog» zwischen der ländlichen und städtischen Bevölkerung und das Verständnis zwischen Produzenten und Konsumentinnen fördern.
«Farmfluencer» erklären das Bauern
Die Stiftung hat bereits mehrere Projekte unterstützt: Im Kanton Zürich zum Beispiel geben Bäuerinnen und Landwirte online Einblick in ihre Tätigkeit. Dabei würden sie auch Basiswissen vermitteln, sagt Yvonne Koller Renggli, etwa: «Warum ist es auf dem Land grün? Wofür sind Hecken da? Warum wird ein Apfelbaum gespritzt?» Diese «Farmfluencer» diskutieren mit Interessierten in der Stadt. Die Reaktionen seien positiv, und das sei mehr als «ein Anflug von Verständnis».
Ähnliche Projekte werden vom Stiftungsrat gefördert. Zum Beispiel schlagen Bauernbetriebe in der Stadt ein Zelt auf. Hier können Interessierte Tiere streicheln, Most pressen und Nahrungsmittel vom Hof degustieren.
Wie erklärt sich die Stadt dem Land?
Die Landwirtschaft erklärt sich der Stadt und zeigt ihr, was sie zu bieten hat. Mag sein, dass dabei auch der ländliche Raum und seine Probleme zur Sprache kommen: Etwa, dass viele Dörfer keinen Laden, keine Post und keine Beiz mehr haben und in den Schlafgemeinden politische Ämter nicht mehr besetzt werden können.
Offen bleibt im Dialog, der von allen Seiten gewünscht wird, wo sich die Stadt umgekehrt dem Land erklärt. Der Politologe Sean Müller meint dazu, den Städten sei es bisher kaum gelungen, ihre spezifischen Probleme in Bundesbern wirksam einzubringen. Die Städte müssten besser lobbyieren. Wie das gehe, könnten sie vom Schweizerischen Bauernverband lernen.