Die im Pariser Klimaabkommen vereinbarte Marke für die Erderwärmung ist überschritten: Erstmals liegt der Wert für zwölf Monate am Stück über der Marke von 1,5 Grad. Die Rede ist von einer «Warnung an die Menschheit».
Eine Schockmeldung, die uns bald wieder kaltlässt? Denkbar, denn: Der Klimawandel ist etwas Abstraktes, sagt Klimaethiker Dominic Roser.
SRF: Werden Sie als Klimaethiker nicht müde, über den Klimawandel zu sprechen?
Dominic Roser: Ja, doch. Es ist etwas Dramatisches, das konstant gegenwärtig ist. Nicht wie ein Sturm, der kommt und geht.
Zynische Vermutung: Wieder eine Schreckensmeldung, die uns aufhorchen, aber schnell wieder kaltlässt?
Ich mache gerne den Vergleich mit persönlichen Veränderungsprozessen. In einer Therapie oder im Coaching stellt sich die Frage, was es braucht, damit man Veränderungen umsetzt. Es braucht zweierlei: positive Handlungsmöglichkeiten und einen hohen Leidensdruck. Sonst kann es noch so schlimm sein, man verändert sich nicht.
Heisst beim Klimawandel?
Leute verfallen in Schockstarre, wenn sie keine positiven Handlungsmöglichkeiten sehen. Besonders schwierig ist es mit dem Alles-oder-Nichts-Denken: Entweder wir müssen die Katastrophe komplett verhindern oder wir lassen es sein. Das stimmt nicht: Jedes bisschen hilft.
Die Menschheit hat schon viele Probleme gelöst.
Und: Der Leidensdruck ist im Alltag nicht so spürbar. Es gibt zwar Schreckensmeldungen, aber das Schlimmste ist noch Jahre entfernt. Auch wenn wir selbst betroffen sein werden, die schlimmsten Auswirkungen werden Menschen in Armut spüren.
Können wir erst mit der Katastrophe umgehen, wenn sie da ist?
Der Klimawandel ist oft abstrakt. Damit hat unser Hirn Mühe. Ein Teil der Lösung ist, dass wir es überlisten. Wir melden ihm: Das ist ernst, auch wenn es sich nicht so anfühlt. Der andere Teil der Lösung: Wir versuchen, das Problem zu lösen, ohne unser Hirn zu überlisten. Sich zu fragen: Welche Wege machen Klimaschutz einfacher?
Werden uns diese Wege zu wenig aufgezeigt?
Die Menschheit hat schon viele Probleme gelöst, zum Beispiel die Pocken ausgerottet. Das neue Buch von Hannah Ritchie «Not the End of the World» etwa zeigt auf, wie das auch im Umweltbereich der Fall ist. Die Solarenergie übertrifft beispielsweise immer wieder alle Erwartungen.
Positive Perspektiven motivieren unser Hirn eher als negative.
Wenn wir die Lösungen nicht sehen, werden wir hoffnungslos. Und Hoffnung ist beim Thema Klimawandel nicht nur ein Zuckerguss für schöne Reden, sondern essenziell.
Man muss also Hoffnung machen, nicht tadeln? «Du sollst nicht fliegen» bringt nichts?
«Es ist moralisch falsch zu fliegen» ist eine berechtige Aussage, die stimmt. Die Frage ist nur, was man ins Zentrum stellt. Die positiven Perspektiven motivieren unser Hirn eher.
Als Beispiel: Wenn ich mein Handeln ändere, gibt es vielleicht eine bestimmte Bäuerin in Bangladesch im Jahr 2050, die mit ihrer Familie in Sicherheit leben kann und etwas aus ihrem Betrieb machen kann.
Als Individuum leistet man kleine Beiträge: Müll trennen, wenig fliegen. Bei manchem kommt Frust auf, wenn die Grossen – etwa Nationen – zu wenig machen. Das Resultat: Viele resignieren.
Es wird immer so sein, dass Gewisse mehr machen müssen, weil Andere auf der faulen Haut liegen. Das ist unvermeidbar.
Was bei der Linderung des Frustes hilft: Unser Einsatz muss kein Tropfen auf den heissen Stein sein. Wenn wir sorgfältig auswählen, wie wir uns gegen den Klimawandel einsetzen, dann kann unser Handeln richtig einschenken. Ich würde lieber eine Person überzeugen, gezielter zu handeln, als zehn Personen dazu zu bewegen, mehr zu tun.
Das Gespräch führte Danja Nüesch.