Das Wichtigste in Kürze
- Viele Obdachlose sind gesundheitlich angeschlagen. Besonders psychische Probleme sind weit verbreitet.
- Zu schaffen macht Obdachlosen insbesondere die Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Auf der Strasse werden sie ignoriert, in der gesellschaftlichen Debatte oft ausgeblendet.
- Für Betroffene ist es äusserst schwierig, der Obdachlosigkeit zu entkommen. Wie adäquat und wirksam bestehende Hilfsangebote sind, ist schlecht erforscht.
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«Einmal sass ich auf einer Kirchentreppe und die ganze Gemeinde ist achtlos an mir vorbeigegangen», erzählt Matthias Unterwegs. «Da habe ich begriffen, wie es ist, unsichtbar zu sein.»
Zwei Monate lang war der deutsche Pfarrer als Bettler auf den Strassen Deutschlands und Frankreichs unterwegs – freiwillig. Es war ein Selbstversuch, eine «Annäherung» an die Welt der Obdachlosen, wie er es vorsichtig ausdrückt.
Verachtet von der Gesellschaft
Seine Erlebnisse hat er in einem Buch festgehalten. «Dass fast alle mir nichts geben wollen, finde ich nicht so tragisch», schreibt er darin. «Doch dieses Über-einen-Hinweg-sehen, das ist schwierig. Du bist nichts. Du bist nicht.»
Die Verachtung, die ihm manchmal entgegenschlug, machte Matthias Unterwegs zu schaffen. Man werde schnell mit Du angeredet, von oben herab behandelt. Und immer wieder werde man vertrieben.
«Man fühlt sich als Mensch zweiter Klasse», erklärt er. «Das kann Verzweiflung oder Wut auslösen. Oft duckt man sich auch weg, um nicht aufzufallen.»
Viele kämpfen mit psychischen Problemen
Es ist keine Überraschung, dass Obdachlose oft mit psychischen Problemen kämpfen. Eine Studie der Psychiatrisch-Psychologischen Poliklinik in Zürich untersuchte 2014 Bewohnerinnen und Bewohner von vier Zürcher Wohneinrichtungen für Obdachlose.
Sie kommt zum Schluss: Rund 96 Prozent der befragten Personen leiden an einer psychischen Erkrankung. Dazu zählen auch Suchterkrankungen. Selbst wenn man diese nicht dazuzählt, bleiben 61 Prozent, die von mindestens einer psychischen Krankheit betroffen sind.
Mangelnde Betreuung in der Psychiatrie
Matthias Drilling kennt diese Zahlen. An der Fachhochschule Nordwestschweiz befasst er sich im Rahmen einer internationalen Studie mit Obdachlosigkeit in der Schweiz.
Dass sich in Obdachloseneinrichtungen Menschen mit psychischen Problemen bündeln, sei eine Tatsache. Die Ursachen seien allerdings unterschiedlich.
Einerseits habe das mit Sparmassnahmen im Gesundheitswesen zu tun: Psychisch kranke Menschen werden schneller aus der Psychiatrie entlassen. Fehlt eine adäquate Betreuung, können solche Leute auf der Strasse landen. Diese Menschen sind also bereits vor der Obdachlosigkeit psychisch angeschlagen.
Die Wohnung ist Teil der Identität
Andererseits ist die Obdachlosigkeit oft mit Problemen verbunden, die viel früher beginnen: mit dem Verlust der Arbeit etwa, einer Scheidung oder Verschuldung.
Der Verlust der eigenen Wohnung wiege dabei besonders schwer, meint Matthias Drilling: «Das ist die gravierendste Erfahrung, die man in einem Prozess des sozialen Abstiegs machen kann.» Die Wohnung sei ein wichtiger Teil der eigenen Identität. Sie zu verlieren bedeute auch, einen Teil seiner selbst zu verlieren.
Es gibt keinen Lebensbereich – sei das in der Begegnung mit anderen Menschen, beim Wohnen oder der Arbeit – in dem Obdachlose noch eine Rolle spielen.
Dies könne zu einer Abwärtsspirale führen: «Jeden Misserfolg schreiben sich die Menschen selbst zu, jeden Erfolg empfinden sie als Zufall.» Werden sie etwa von einem Ort verscheucht, suchen sie den Fehler bei sich. Werden sie in einem Café zum Essen eingeladen, denken sie: «Habe ich ein Glück!»
Keine Bedeutung für die Gesellschaft
Dazu kommt die systematische Nichtbeachtung von Obdachlosen. Darin sieht Matthias Drilling das grösste Problem für betroffene Menschen: «Sie haben keine Bedeutung mehr für die Gesellschaft. Es gibt keinen Lebensbereich – sei das in der Begegnung mit anderen Menschen, beim Wohnen oder der Arbeit – in dem sie noch eine Rolle spielen.»
Er habe auch beobachtet, wie Obdachlose an Bahnhöfen wie streunende Hunde verjagt wurden. Dabei würden sie nicht einmal mehr mit ganzen Sätzen angesprochen. Die Ausgrenzung erfolge also auch auf verbaler Ebene. «Das ist eine extreme Erfahrung», meint Drilling.
Frauen gehen Zwangsbeziehungen ein
Besonders schwer haben es Frauen. Man sieht sie zwar weniger auf der Strasse. Das heisst aber nicht, dass sie seltener wohnungslos sind.
«Sie gehen oft Zwangsbeziehungen ein, weil die Strasse für sie zu gefährlich ist», erklärt Matthias Drilling. «Sie liefern sich irgendwelchen Männern aus, bei denen sie übernachten können. Da steigen die psychologischen Probleme und die Selbstzweifel nochmals viel stärker.» Im Extremfall nagen Selbstzweifel so stark an einer Person, dass sie Suizidgedanken wälzt.
Genaue Zahlen fehlen
Ohne Hilfe der Obdachlosigkeit zu entkommen, ist schwierig. Hilfsangebote gib es in der Schweiz viele: von Gassenküchen und Notschlafstellen bis zu begleitetem Wohnen und dem Versuch, betroffene Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren.
Ob diese Angebote ausreichen und wie wirksam sie sind, ist schlecht erforscht. Das beginnt schon damit, dass die Zahl der wohnungslosen Menschen in der Schweiz unbekannt ist. Sie wird in einzelnen Städten bloss geschätzt, etwa anhand von Übernachtungen in Notschlafstellen.
Dazu kommt eine grosse Dunkelziffer: Die Mehrheit der Wohnungslosen lebt nicht auf der Strasse, sondern in temporären Mietverhältnissen oder kommt bei Bekannten auf dem Sofa unter.
Unsichtbarkeit hat System
Das ist kein Schweizer Phänomen. Auch in anderen Ländern existieren keine Statistiken zur Wohnungslosigkeit. Matthias Drilling wagt eine provokative These: «Man möchte das gar nicht wissen, denn das würde den Sozialstaat in Zugzwang bringen.» Ein Problem, dessen Ausmass man nicht kennt, muss man auch nicht lösen.
Die Unsichtbarkeit der Obdachlosen hat also System. Wir schauen nicht nur über sie hinweg, wenn wir ihnen auf der Strasse begegnen. Wir weichen auch einer gesellschaftlichen Diskussion über das Thema aus. Für die Betroffenen ist das doppelt schmerzhaft.
Unangenehme Fragen
Die europäische Studie zur Obdachlosigkeit, an der Matthias Drilling mitarbeitet, möchte eine gesellschaftliche Bildungslücke schliessen. Sie könnte einen unsichtbaren Teil unserer Gesellschaft sichtbarer machen.
Das führt zu unangenehmen Fragen: Was wollen wir als Gesellschaft den Menschen bieten, die von Armut und Obdachlosigkeit betroffen sind? Und was wollen wir tun, damit es gar nicht so weit kommt?
Die Kraft der kleinen Gesten
Abseits dieser grossen Fragen können auch kleine Gesten etwas bewirken. Das hat Pfarrer Matthias Unterwegs bei seinem zweimonatigen Selbstversuch als Obdachloser auf der Strasse erlebt.
«Es tut unwahrscheinlich gut, wenn Leute dich ansprechen», erzählt er. «Wenn sie einmal Zeit haben, nach deiner Geschichte zu fragen. Wenn sie Augenkontakt aufnehmen, selbst wenn sie dir kein Geld geben. Und wenn dich jemand zum Essen einlädt, ist das eine grosse Geschichte! Das sind Erfahrungen, die unter die Haut gehen.»