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Das Café Kranich ist ein in die Jahre gekommener Raum mit Glasfronten und einem dunklen Steinboden. Die kleine Cafeteria der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel UPK ist an diesem verregneten Novembermorgen gut besucht.
Daniel S. macht das nichts aus. Er hat seine Geschichte schon dutzendfach erzählt – in Einzel- und Gruppentherapien.
Der Anfang vom Abstieg
Er hat davon erzählt, wie er, der Sohn aus gutem Hause, gelernter Zimmermann und Dachdecker, Fitnesscoach und ausgebildeter Sozialpädagoge, obdachlos wurde.
Er hat vom Kokain erzählt, von den Zuhältern und Drogendealern, von der Notschlafstelle und von den Wochen in den Gammelhäusern im Zürcher Langstrassenquartier. Vom Tod der Mutter und der Plastiktüte, die er sich im Sommer vor einem Jahr über den Kopf stülpte, damit das alles ein Ende haben würde.
Daniels Gesicht ist kantig, harmonisch, das Haar sauber geschnitten und mit Gel frisiert. Die olivgrüne Jacke hat er über den Stuhl gehängt. Aufrecht sitzt er da, der Stoff seines schwarzen Polohemdes spannt über der Brust, am Bizeps und dort, wo die Schultern in den Nacken überlaufen.
Auf den Unterarmen und am Hals trägt er Tätowierungen. Seine grau-blauen Augen blicken etwas traurig, aber fokussiert, kontrolliert. Wie ein Seiltänzer, der sich sagt: Schau nicht nach unten. Schau den Punkt an, zu dem du hinwillst.
Krebs, Koks, Klinik
Angefangen habe alles, sagt Daniel, als seine Mutter mit Krebs im Endstadium im Spital lag. Er schaut regelmässig nach ihr: Tagsüber arbeitet er auf dem Bau, abends geht er im Spital vorbei – und bevor er in seine Wohnung im Aargau fährt, macht er immer häufiger einen Umweg über die Zürcher Langstrasse.
Kokain war für Daniel schon früher ein Thema: «Ich habe ein diagnostiziertes ADHS. Kokain hilft mir, runterzukommen.» Jetzt aber werden die Aufenthalte im Zürcher Milieu immer länger. Bald verliert Daniel seinen Job. «Ich merkte, dass ich abrutschte.»
In die Notschlafstelle gehst du erst, wenn's gar nicht mehr anders geht.
Ganz unten
Im Januar 2016 meldet er sich in der Klinik Königsfelden zum Entzug an, zwölf Monate sollte er dauern. Daniel entschliesst sich, seine Wohnung aufzugeben. «Die kostete immerhin 1800 Franken im Monat.»
Doch der Entzug läuft nicht gut: Auch zwischen Daniels Entzugsstation und dem Spitalbett der Mutter liegt die Langstrasse. Als Daniel nach einem mehrtägigen Absturz in die Klinik zurückkehrt, wartet dort die Nachricht vom Tod der Mutter auf ihn.
Besser wird der Sommer 2016 für Daniel nicht: zwei Wochen später, den Entzug hat er mittlerweile abgebrochen, bringt sich der WG-Partner von Daniels Freundin um – vor seinen Augen, mit der Schrotflinte.
Kurz darauf versucht Daniels Partnerin, sich das Leben zu nehmen. Er hält sie davon ab, von der Brücke zu springen.
Ins Puff mit den Russen
Seit die WG der Freundin keine Option mehr ist, lebt Daniel auf der Gasse. Sein Leben dreht sich um das Kokain. Er arbeitet als Türsteher, Drogenkurier, Vermittler, chauffiert Prostituierte herum. «Einmal traf ich an der Langstrasse drei Banker. Die nahm ich mit in ein Etablissement, dort liessen sie 10'000 Stutz liegen. Macht einen Tausender Provision für mich.»
Wenn das Geld reicht, schläft Daniel im Hotel. Ansonsten bei Prostituierten oder in der Notschlafstelle. «Aber die Notschlafstelle ist wirklich die letzte Möglichkeit», sagt er. «Da gehst du erst hin, wenn's gar nicht mehr anders geht.»
Im freien Fall
Lieber kommt er in den sogenannten Gammelhäusern unter, vier mittlerweile geräumten Wohnblocks im Langstrassenquartier, deren Besitzer direkt an das Sozialamt vermietete. «Dort habe ich mich tagelang aufgehalten», erzählt Daniel. Auch dort schlug er sich mit dem Organisieren von Kokain für andere durch.
Daniel ist im freien Fall. Er bricht mehrere Entzüge ab, die Familie bietet ihm keinen Halt, im Gegenteil. «Mein Vater und meine Geschwister gaben mir die Schuld an der Krebserkrankung meiner Mutter», sagt er.
Am 21. Oktober 2016 ist er ganz unten angekommen: «Ich hatte einen Suizidversuch», sagt Daniel mit der Distanz von mehreren Monaten Therapie. Im letzten Moment habe ihn ein Sicherheitsdienstler gefunden, mit viel Kokain im Blut und einer Plastiktüte über dem Kopf.
Auf dem Rückweg zur Normalität
Auch die nächste Suchttherapie bricht Daniel ab. Dafür lernt er in der Klinik seine heutige Partnerin kennen. Die beiden ziehen zusammen nach Basel, wo sie herkommt.
Sie haben eine Wohnung, Daniel bekommt dank seiner Sozialpädagogen-Ausbildung eine temporäre Stelle bei einem Jugendzentrum. Als er wieder anfängt zu konsumieren, stellt ihn die Freundin auf die Strasse, schickt ihn in die UPK. Er solle sich Hilfe holen und zurückkommen, wenn er sauber sei.
Heute, nach bald sechs Monaten Therapie, ist Daniel fast so weit. «Ich habe gelernt, Gefühle auszuhalten, nicht immer gleich davonzulaufen», sagt er über seine Zeit in der Psychiatrie. Mit der Freundin ist er noch zusammen. In ihr habe er seine grosse Liebe gefunden, sagt Daniel. «Sie hat mir gezeigt, was Leben heisst.»
Daniel sucht jetzt nach einem Platz in einem betreuten Wohnen – ganz ohne professionelle Unterstützung traut er sich die Welt da draussen noch nicht zu. Es wäre sein erster fester Wohnsitz seit fast zwei Jahren.
Ein Land, 800 Schlafplätze
Was Daniel S. erlebt hat, widerfährt vielen Menschen in der Schweiz. Die Zahl der Obdachlosen steigt – zumindest gibt es dafür Anzeichen, wie die Tagesschau kürzlich berichtete. Zwar weiss niemand genau, wie viele Menschen in der Schweiz ohne eigenes Dach über dem Kopf leben. Offizielle oder andere zuverlässige Statistiken gibt es nicht.
Die Freiburger Notschlafstelle La Tuile führt eine – sicher nicht abschliessende – Liste von Einrichtungen in der ganzen Schweiz, die insgesamt rund 800 Schlafplätze anbieten. Zumindest im Winter sind diese Einrichtungen in der Regel voll.
Wer sucht, der findet
Noch ist das Angebot ausreichend. Auch unter Gassenarbeitern ist man sich einig: Wer unbedingt an der Wärme schlafen möchte, der findet einen Platz. «In der Schweiz gibt es nur wenige Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind», schreibt etwa die Caritas. Allerdings steige die Zahl von Personen, «die ihre Wohnung verlieren und danach ohne festen Wohnsitz leben müssen».
Auch zum Ausmass der Wohnungslosigkeit in der Schweiz gibt es keine belastbaren Zahlen. Als Indikator für die Entwicklung wird oft die steigende Zahl der Leute herangezogen, die beim Basler Verein für Gassenarbeit «Schwarzer Peter» eine Meldeadresse haben.
Denn gerade wer keinen festen Wohnsitz hat, muss für die Behörden erreichbar sein. Wer sich nicht anmelden kann, hat keinen Zugang zum Sozialamt, zum RAV oder zur IV.
Das Problem mit der Meldeadresse
Über den «Schwarzen Peter» kann sich anmelden, wer bereits vorher den Wohnsitz oder Lebensmittelpunkt in Basel-Stadt hatte. Im Jahr 2016 waren insgesamt 847 Personen beim Schwarzen Peter gemeldet, durchschnittlich während gut sieben Monaten.
Nachdem die Zahl in den vergangenen Jahren stetig gestiegen ist, dürfte sie sich für 2017 in einem ähnlichen Rahmen bewegen, sagt Michel Steiner, Gassenarbeiter beim «Schwarzen Peter».
Hochrechnungen von der Zahl aus Basel auf die ganze Schweiz sind nicht möglich. Denn das Angebot des Schwarzen Peters ist schweizweit einzigartig. Stefan Haun, Leiter des «Brot-Egge» bei den Sozialwerken Pfarrer Sieber in Zürich, sagt: «Es ist ein grosses Problem, dass den Leuten oft eine Meldeadresse fehlt.»
Es ist aber nicht leicht, eine solche Meldeadresse zu erhalten. Michel Steiner vom «Schwarzen Peter» sagt, eigentlich sei jede Gemeinde verpflichtet, Leuten ohne festen Wohnsitz eine Meldeadresse zur Verfügung zu stellen. Viele befürchteten aber, mit dem Angebot Randständige anzuziehen. In Einzelfällen klappe es auch in anderen Gemeinden. Allerdings oft erst, nachdem Basel-Stadt die Leute an ihre Gemeinden zurückweist und Druck macht.
In der Abwärtsspirale
Wer sind diese Menschen, die ihren Wohnsitz verlieren und im Schnitt über ein halbes Jahr über eine Einrichtung für aufsuchende Gassenarbeit gemeldet sind? Michel beobachtet seit einigen Jahren Beunruhigendes: Immer mehr Menschen aus dem Mittelstand sind betroffen.
Steiner mag keine vereinfachenden Schubladisierungen, aber der Einfachheit halber sagt er doch: «Wir haben einen kleinen Sockel an sogenannt klassischen Obdachlosen – und der Rest sind normale Leute, die aus dem System fallen.» Das deckt sich mit den Erfahrungen von Stefan Haun in Zürich: «Leute aus dem Mittelstand gehören zum Beratungsalltag», sagt er.
Eine Trennung, ein Unfall, ein Todesfall in der Familie – es brauche nur wenig, weniger als auch schon, sagt Steiner, um die Abwärtsspirale zum Drehen zu bringen.
Und vor allem: Der Wohnungsmarkt ist unerbittlich. Wer einmal seine Bleibe verloren hat, bekommt so schnell nichts Neues. Schon gar nicht ohne festes Einkommen. Schon gar nicht als Sozialhilfebezügerin oder IV-Rentner.
Zum Beispiel Nicole
Wie schnell ein geordnetes Leben aus der Bahn geraten kann, zeigt auch die Geschichte von Nicole. Der letzte Ort, an dem Nicole sich zuhause fühlte, war eine Oase in der marokkanischen Wüste. Dort hatte sie begonnen, für den Besitzer eine Touristenunterkunft einzurichten, Gemüse- und Kräutergärten anzulegen, den Pool auf Vordermann zu bringen.
Die Nächte verbrachte sie im Freien, über sich den Sternenhimmel und das Gezirpe der Insekten, neben sich Jimmy, das Schaf, das ihr Gesellschaft leistete. Es war nicht das Paradies, aber immerhin ein Ort, der ihr Schutz bot vor der Welt, den Problemen, vor ihrem eigenen Leben. Doch ihre Zeit in der Oase nahm diesen Herbst ein jähes Ende.
Am Hals ein Herz
Ihre Geschichte sei lang, warnt Nicole gleich zu Beginn. Sie hat das Migros-Restaurant am Basler Claraplatz für das Treffen vorgeschlagen. Es ist einer der wenigen warmen Orte, an denen man nicht auffällt, wenn man nichts konsumiert.
Seit sie in der Notschlafstelle übernachtet, ist sie fast jeden Tag hier. Die Notschlafstelle ist von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends geschlossen. «Was soll ich denn bei dieser Kälte draussen rumhängen», sagt Nicole.
Sie hat sich mehrere Schichten Kleider übergezogen, zuoberst einen rauen, blauen Kapuzenpulli, dazu Jeans und schwarze Turnschuhe mit Blumenmuster. Ihr Haarschnitt ist gepflegt, der blonde Pony ordentlich, die Augen stark mit Kajal geschminkt. Um den Hals trägt sie einen glitzernden Anhänger, ein fliegendes Herz.
Der Sturz ins Bodenlose
Die lange Geschichte beginnt, als Nicole vor acht Jahren beim Skifahren schwer stürzt. Die Diagnose: Halswirbelsäulen-Distortion, auch bekannt als Schleudertrauma. Nicole hat konstant Schmerzen, ihren Job als Modeverkäuferin gibt sie auf.
Sechs Monate nach dem Sturz schickt sie die Unfallversicherung zu einem Gutachter nach Bern. Der glaubt, ihre Schmerzen seien psychosomatischen Ursprungs: «Als ich da rauskam, hatte ich das Gefühl, ich sei ein Psycho», erinnert sie sich. Ein anderer Gutachter habe sie als «hollywoodreife Schauspielerin» bezeichnet. «Was da abgeht, ist Verleumdung pur», sagt sie.
Audis und Ausländer
Auch bei der IV blitzt Nicole ab. Das passiert vielen Menschen mit Schleudertrauma, weil die zum Teil sehr starken Schmerzen mit den gängigen Methoden der Medizin nicht «objektiviert» werden könnten, wie es in einem Beitrag auf der Informationsplattform humanrights.ch heisst.
Für die IV ist Nicole zu 100 Prozent arbeitsfähig. «Das hat mich getroffen», sagt sie. «Ich bin Schweizerin, und ich bin krank. Ich werde in meinem eigenen Land nicht unterstützt.» Sie müsse heute dafür büssen, dass es andere früher viel leichter hatten bei der IV. Sie meint damit auch Ausländer: «Schau dich doch mal um, wer hier Audi fährt!»
«Man lässt mich nicht leben»
Erst vier Jahre nach dem Unfall habe ihr zum ersten Mal ein Arzt wirklich zugehört, sagt Nicole. Sie lässt sich einen Neurostimulator implantieren, ein kleines Gerät, das ihre Schmerzen mit einem Nervensignal stört.
Von da an geht es ihr körperlich zwar besser, doch der Kampf gegen die Windmühlen der Versicherungen belastet sie seelisch: Die langjährige Beziehung geht in die Brüche, arbeiten kann Nicole nicht, sie hat Angstzustände und eine soziale Phobie. Sie lebt vom Sozialamt, alleine in einer Wohnung im Baselbiet. «Man lässt mich nicht leben», fasst sie das Gefühl zusammen, das sie immer mehr beschleicht.
Vor normalen Menschen habe ich Angst. Die sind für mich wie Wölfe.
Blaulicht im Paradies
Schliesslich entscheidet sich Nicole zur Flucht: Sie fliegt ein erstes Mal nach Marokko, verbringt nach Ablauf ihres Visums einige Zeit in Deutschland, kehrt dann zurück nach Marokko. In der Zwischenzeit jedoch wird ihre Wohnung im Baselbiet zwangsgeräumt, weil sie nicht auffindbar ist. In Marokko erkrankt Nicole derweil an einem Pankreasleiden. «Die Ambulanz holte mich aus der Oase raus, als ich schon ganz gelb war.»
Nicole wird im Herbst 2017 in die Schweiz zurückgeholt. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus steht sie auf der Strasse. Erst kommt sie noch bei einer Bekannten unter, seit Mitte November aber schläft sie in der Notschlafstelle.
Die Tage verbringt sie auch gleich mit den drei Frauen aus ihrem Zimmer, «vor normalen Menschen habe ich Angst. Die sind für mich wie Wölfe, denen ich ausgeliefert bin», sagt sie. Von der Politik erwartet sie nichts: «Der Mittelstand soll dezimiert werden, das ist das Ziel.»
Nicole sucht eine Wohnung, geht auch jede Woche an Besichtigungen. Aber wer vom Sozialamt kommt, hat kaum Chancen. «Es geht nicht vorwärts», sagt Nicole immer wieder, und ihr kommen die Tränen. «Das ist nicht mein Leben.»