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«Alexej Nawalnys Autobiografie sollte man unbedingt lesen!»
Aus Kultur-Aktualität vom 22.10.2024. Bild: Getty Images / Anadolu
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«Patriot. Meine Geschichte» «Brutal und berührend» – Alexej Nawalnys Autobiografie

Während gut vier Jahren hat der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny an «Patriot. Meine Geschichte» gearbeitet – bis zu seinem Tod im Straflager im vergangenen Februar. Der Kulturjournalist und Filmemacher Eduard Erne über ein bemerkenswertes Buch, das Putins Erzfeind von seiner wenig bekannten Seite zeigt.

Eduard Erne

Journalist und Filmemacher

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Eduard Erne ist ein österreichischer Filmregisseur, Schauspieler und Fernsehjournalist - lange Jahre beim SRF-Format «Kulturplatz». Er lebt und arbeitet in der Schweiz und in Deutschland.

SRF: Wie erging es Ihnen beim Lesen des Buchs?

Eduard Erne: Ich war extrem gespannt. Auch weil der Verlag ein grosses Ding um das Buch gemacht hat. Man konnte es nur online mit 13 Passwörtern und ganz kompliziert lesen. Das Buch selbst hat mich überrascht und zum Teil auch sehr berührt.

Wie kommt «Patriot – Meine Geschichte» denn daher?

Das Buch besteht aus ganz unterschiedlichen Teilen. Es gibt da einen grossen biografischen Part. Da stehen Dinge drin, die ich bisher nicht wusste, mir aber manches noch klarer gemacht haben.

Was zum Beispiel?

Nawalny war ein völlig untypischer Oppositionspolitiker, was seine Sozialisierung betrifft. Er wuchs in der Nähe von Tschernobyl auf, sein Vater war Ukrainer. Nawalny hat die Reaktorkatastrophe mitbekommen.

All die Massnahmen, die gegen ihn ergriffen wurden – das ist einfach nur brutal.

Seine Verwandten stammen aus einem Dorf, das umgesiedelt werden musste. Nawalny hat also früh ein Misstrauen gegen staatliche Verlautbarungen und staatliche Massnahmen entwickelt. Da wurde also ein Widerstandskeim in ihn gelegt.

Was mir auch völlig neu war: Nawalny hat einen Grossteil seiner Jugend in sowjetischen Kasernen beim Militär verbracht hat. Sein Vater war Offizier.

Was hat Sie beim Lesen am meisten berührt?

Der letzte Teil ist ein Tagebuch aus dem Straflager. All die Massnahmen, die gegen ihn ergriffen wurden – das ist einfach nur brutal. Man weiss das zwar. Aber wenn man das in so einer Tagebuchform mitbekommt, ist das nochmal ein Stück realer.

Stichwort Folter?

Nawalny wird nachts jede Stunde einmal geweckt. Er muss sich stundenlang Putins Reden anhören. Er wird von Mithäftlingen geschnitten, ist zum Teil isoliert. Auf seinen gesundheitlichen Zustand geht man kein bisschen ein. Das Überraschende ist aber: Nawalny schreibt nie in einem Ton, der auf Mitleid aus ist. Er ist immer voller Hoffnung, obwohl er die krassesten Dinge erfährt.

Buchhinweis

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Alexej Nawalny: «Patriot. Meine Geschichte». Auf Deutsch übersetzt von Rita Gravert, Norbert Juraschitz und Karin Schuler. Fischer Verlag, 2024.

Was mich auch überrascht hat: dass das Buch plötzlich eine religiöse Komponente hat. Nawalny fängt an, über seinen Glauben zu schreiben. Wobei er nichts mit dieser russisch-orthodoxen Staatsreligion zu tun hat.

Das Verrückte ist, dass Nawalny im Wissen nach Russland zurückging, dass ihm dort übel mitgespielt werden würde.

Dieser Glaube kommt von innen. Vielleicht war das für Nawalny eine Hilfe, um die Situation durchzustehen. Er hatte ja einmal im Schlusswort eines Prozesses aus der Bergpredigt zitiert. Und doch ist das ein Zug Nawalnys, der mir bisher völlig fremd war.

Lesen oder nicht?

Unbedingt lesen! Das Verrückte ist ja, dass Nawalny im Wissen nach Russland zurückging, dass ihm dort übel mitgespielt werden würde. Er schreibt in «Patriot. Meine Geschichte», er wollte dieses Buch schreiben, weil es sein Denkmal sein soll, falls man ihn endgültig erledigen sollte.

Zu verstehen, wie er politisch dachte, dass für ihn Widerstand nur vor Ort möglich war und nicht im Exil. Und dass er dafür sein Leben riskiert hat, das finde ich ein irrsinniges Zeichen. Das hat mich tief berührt.

Das Gespräch führte Caroline Lüchinger.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 22.10.2024, 08:06 Uhr. ; 

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