Das Wichtigste in Kürze:
- Die technischen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin wachsen rasant.
- Kommende Generationen werden immer noch auf herkömmliche Weise Kinder kriegen. Jedoch wird vermutlich die Reagenzglas-Variante zunehmen.
- Manche Philosophen finden, wenn es einst möglich sein sollte, Embryonen genetisch zu verbessern, sollten Eltern dies auch tun. Andere halten dagegen.
SRF: Der Schwangerschaftsabbruch ist heute in vielen Ländern zumindest innerhalb einer bestimmten Frist straffrei. Ist die Abtreibung in der Philosophie noch umstritten?
Bettina Schöne-Seifert: Hochkonjunktur hat das Thema in der westlichen Bioethik gerade nicht. Es gibt nach wie vor Kontroversen, aber die Argumente für und gegen eine liberale Abtreibungspraxis liegen mehr oder weniger auf dem Tisch.
Politisch gesehen muss ein freiheitlicher Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch in etlichen Ländern noch erfochten werden oder sogar – man denke an die USA – erneut verteidigt werden.
Bei einem Schwangerschaftsabbruch kommt es zum Konflikt zwischen dem Recht einer Frau über den eigenen Körper zu bestimmen und dem Lebensrecht des Embryos. Haben Embryonen denn ein Recht auf Leben?
Diese übliche Konfliktbeschreibung – Autonomie gegen Lebensrecht – teilen viele Philosophen nicht, mich selbst eingeschlossen. Ein embryonales Lebensrecht liesse sich nur mit Vorannahmen begründen, die mich sämtlich nicht überzeugen. Wer jedoch die Ansicht vertritt, ein Embryo habe ein Recht auf Leben, muss Abtreibungen mit wenigen Ausnahmen unzulässig finden. Und natürlich auch Präimplantationsdiagnostik oder Embryonenforschung ablehnen, bei denen ja Embryonen zerstört werden.
Worin besteht der Konflikt denn Ihrer Meinung nach?
Zumeist und zuvorderst: zwischen dem Recht auf Fortpflanzungsfreiheit und den gegenläufigen ethischen Überzeugungen Dritter. Je nach Rahmenbedingungen kann Anderes hinzukommen: Ein Schwangerschaftsabbruch kann individuell eine immense psychologische Belastung bedeuten; eine vollkommen gleichgültige Haltung gegenüber werdenden Menschen könnte theoretisch den Respekt vor dem Leben geborener Menschen aufweichen. Auch eine Abtreibung gegen den Wunsch der potentiellen Mutter wäre natürlich problematisch.
Eltern zu werden, muss heute nicht mehr heissen, mit dem eigenen Kind genetisch verwandt zu sein. Eizellspenden und Samenspenden verhelfen auch unfruchtbaren oder homosexuellen Paaren, oder alleinstehenden Müttern zu Kindern. Der Philosoph David Velleman befürchtet eine «genetische Verwirrung» von Kindern, die nicht bei ihren biologischen Eltern aufwachsen. Überzeugt Sie dieses Argument?
Ich bin da skeptisch. Aber David Velleman argumentiert nicht etwa als genetischer Determinist oder als politischer Hardliner. Sein Anliegen ist komplexer. Er meint, dass das Wissen um die eigene genetische Herkunft eine wichtige Dimension der eigenen Identität darstellt. Den Kindern die genetische Herkunft offenzulegen, verlangt ja auch die Uno-Kinderrechtskonvention.
Die technischen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin wachsen rasant. Mittlerweile können nicht nur sterile Paare schwanger werden, sondern auch Frauen nach der Menopause Kinder austragen. Was halten Sie von Frauen, die mit 60 Jahren Mutter werden?
Zunächst einmal freut mich der technische Fortschritt uneingeschränkt für diejenigen Frauen, die das Pech einer Menopause mit 36 Jahren trifft. Haben sie früh genug Eizellen eingefroren, besteht für sie die Möglichkeit, sich ihren Kinderwunsch dennoch zu erfüllen. Die 60-jährige Wöchnerin wird ein absoluter Einzelfall bleiben, wenn wir gute Erziehung und Aufklärung in Fragen der Lebensklugheit leisten.
Die Möglichkeiten der genetischen Diagnostik können ein Paar vor die schwierige Entscheidung stellen, sich für oder gegen ein Kind zu entscheiden, das behindert sein wird. Ist es wirklich eine Erleichterung, dass es entsprechende Tests gibt?
Das kommt darauf an: Eine Erleichterung kann diese Option für Betroffene mit bekanntem genetischen Risiko sein, die sonst gar keine Schwangerschaft wagen würden. Und auf anderer Ebene auch für diejenigen, bei denen besagte Tests beruhigend ausfallen.
Für manche hingegen mag deren Durchführung zur schwersten Entscheidung ihres Lebens führen. Aber letztlich ist Erleichterung auch nicht alles, worum es Testwilligen – beziehungsweise der Biopolitik – gehen muss. Die Möglichkeit, die eigene Fortpflanzung etwas unabhängiger von der «genetischen Lotterie» zu machen, bedeutet in meinen Augen einen Fortschritt.
Glauben Sie, kommende Generationen werden immer noch ganz herkömmlich «Kinder machen» – oder wird die Mehrheit ihre Kinder im Reagenzglas zeugen und genetisch untersuchen lassen, bevor sie sich für das Austragen eines Kindes entscheiden?
Die herkömmliche Art ist doch so viel schöner – da muss es gute subjektive Gegengründe geben. Ich denke aber schon, dass die Reagenzglas-Variante zunehmen wird.
Julian Savulescu sagt, werdende Eltern hätten sogar die Verantwortung, sich über die genetische Ausstattung ihrer Kinder Gedanken zu machen. Wenn es einst möglich sein sollte, Embryonen genetisch zu verbessern, sollten Eltern dies auch tun – alles andere wäre fahrlässig. Wie sehen Sie das?
Anders als er. Aber man müsste wohl zunächst unterscheiden zwischen «Verbesserungen», die spätere Krankheitsrisiken (etwa Schlaganfälle oder Krebs) minimieren, und krankheitsunabhängigen «Verbesserungen». Auch letztere, so hypothetisch sie sind, würde ich ethisch nicht kategorisch ablehnen. Eltern jedoch dazu zu verpflichten, entsprechend tätig zu werden, scheint mir nicht plausibel.
Das Gespräch führte Barbara Bleisch.
Sendung: SRF 1, Sternstunde Philosophie, 5.3.2017, 11:00 Uhr.