Es bestehe ein gesellschaftlicher Glückszwang, schreibt Politologin Juliane Marie Schreiber in ihrem Buch «Ich möchte lieber nicht».
Doch wenn wir immer nur uns selbst optimieren, versäumen wir es, unsere Lebensverhältnisse zu verbessern. Deshalb fordert Schreiber: Wir müssen mehr schimpfen.
SRF: Sie haben einmal gesagt: «Glück ist eine psychische Störung». Was meinen Sie damit?
Juliane Marie Schreiber: Der Psychologe Richard Bentall hat 1992 gesagt: «Glück ist eigentlich eine psychische Störung, weil Menschen in diesem Hochzustand eher unter Selbstüberschätzung und Realitätsverlust leiden. Er sagt, Glück sei ein statistischer Ausreisser, der abnormal ist.
Ich wehre mich gegen den gesellschaftlichen Glückszwang.
Glück ist nicht normal?
In der Konsumwelt wird uns eingeredet, Glück sei so etwas wie ein Normalzustand, den wir ständig herstellen müssen. Aber der Normalzustand ist das Nicht-Glück. Heute denken wir: «Es liegt an mir. Ich kann glücklich sein, wenn ich nur will.» Das stimmt zu einem gewissen Teil, aber nicht nur.
Sollen wir denn nicht nach Glück streben?
Ich wehre mich gegen den gesellschaftlichen Glückszwang. Es ist wahnsinnig nervig, wenn man immer von Freunden hört: «Sei nicht so negativ, denk positiv.» Das ist gut gemeint. Aber es hat den Effekt, dass man sich nicht mehr traut, auch mal was Negatives zu sagen.
Woher kommt diese Denkweise?
Vieles davon entstammt der positiven Psychologie. Die entstand Ende der 1990er-Jahre in den USA. Mitte der Nullerjahre kam sie zu uns und wächst seitdem stetig. Der Begründer Martin Seligman sagte damals, er wolle nicht nur Leiden therapieren, sondern das Leben für alle optimieren.
Das heisst, jeder kann immer alles verbessern. Menschen, denen es eigentlich schon ganz gut geht, wird so eingeredet, es müsste ihnen noch besser gehen.
Ist es denn nicht positiv, wenn wir an uns arbeiten und besser werden wollen?
Wenn wir sagen: «Es liegt immer nur am eigenen Mindset», ist das sehr kurz gedacht. Andere Faktoren, die über unser Glück bestimmen – soziale Chancen, Ungleichheit, Herkunft – werden dann nicht berücksichtigt. Das kritisiere ich.
Wem nützt es denn, wenn wir alle individuell nach Glück streben?
Der Status Quo profitiert natürlich davon, wenn wir dem Individuum das Gefühl geben, es sei für alles selbst verantwortlich. Das ist politisch eingebettet in unsere neoliberale, spätkapitalistische Struktur.
Ich glaube aber, dass Bedingungen erfüllt sein müssen, damit wir uns entfalten können: Es braucht gute Bildung, gute Gesundheitsversorgung. Diese Aspekte thematisieren wir gerade nicht genug.
Was braucht es, damit wir die Verhältnisse ändern können?
Wir suchen die Kämpfe zu stark innen und müssten wieder mehr nach aussen gehen. Ein Beispiel dafür ist Überarbeitung: Die meisten von uns würden eher in ein Coaching gehen und an ihrer Resilienz oder ihrem Zeitmanagement arbeiten, statt die Arbeitsbedingungen zu kritisieren.
Das Artikulieren des Unmuts ist ganz wichtig.
Vielleicht sollten wir ein Stück zurücktreten und schauen, unter welchen politischen Bedingungen wir arbeiten. Das Artikulieren des Unmuts ist ganz wichtig. Wenn wir nicht wissen, dass andere die gleichen Probleme haben, können wir uns nicht mit ihnen zusammentun und etwas ändern. Schimpfen ist eine vorpolitische Artikulation.
Eine pessimistische Lebenseinstellung macht also handlungsfähiger?
Ich fasse es gerne mit dem Schriftsteller Antonio Gramsci zusammen: «Pessimums des Verstandes, Optimismus des Willens»: Wir müssen kritisch darin sein, wie wir die Welt betrachten. Wir dürfen uns nichts vormachen, wir dürfen die Welt nicht schönreden. In einem zweiten Schritt sollten wir dann die Welt verändern.
Das Gespräch führte Uta Kenter.