«In den letzten Wochen wurden die Schweizer Polizistinnen und Polizisten sehr düster dargestellt», sagt Johanna Bundi Ryser, Präsidentin des Verbands Schweizerischer Polizeibeamter VSPB. Sie ist seit 30 Jahren Polizistin.
Die Polizei werde heute intensiver wahrgenommen, die Öffentlichkeit sei kritischer geworden. «Wir wissen, dass wir nicht unfehlbar sind. Wir versuchen, unsere Arbeit sachlich zu erklären, aber das interessiert die Leute meistens nicht.»
Vertrauen der Bevölkerung
Gemäss dem Bericht «Sicherheit 2019» der ETH Zürich geniesst die Polizei von allen Institutionen bei der Bevölkerung das grösste Vertrauen: 8 von 10 Punkten – mehr als Wissenschaft, Gerichte, Bundesrat und Wirtschaft. Auch eine Studie für das Zürcher Sicherheitsdepartement belegte 2016 die Zufriedenheit mit den Einsatzkräften.
Das ist ein harter Kontrast zur Kritik mancher Kreise. Die steigende Zahl der Fälle von Drohungen und Gewalt gegen Beamte deutet ebenfalls darauf hin, dass Teile der Gesellschaft anders denken.
Anfeindungen von verschiedenen Seiten
«Der Respekt geht verloren», sagt Johanna Bundi Ryser. Sie erzählt vom Werbespot eines Discounters: «Eine alte Frau steht vor einem Laden, ein Streifenwagen fährt vorbei, die Frau zeigt der Patrouille den Mittelfinger – soll das lustig sein? Man bekommt das Gefühl, die Polizei sei Freiwild. In Basel wurde gerade ‹Shoot White Police Officers› an Wände geschrieben.»
Hinter Kritik an der Polizeiarbeit steckten meistens politische Haltungen, sagt Daniel Blumer, Kommandant der Stadtpolizei Zürich, der seit 35 Jahren bei der Polizei ist. «Als Kommandant musste ich noch nie Auskunft über einen Kriminalfall geben. Bei der Kritik geht es immer um Einsätze im öffentlichen Raum.»
Die Öffentlichkeit sehe Bilder und interpretiere sie oft nicht richtig, weil sie nicht alle Umstände kenne. «Es geht nicht um objektive Argumente. Oft geht’s um Haltungen, vielleicht auch um den Wahlkampf.»
Polizisten seien «die Prügelknaben der Spassgesellschaft», schrieb Fabian Baumgartner in der NZZ: «Die Koalition der Polizistenhasser ist breit: Sie reicht von Linksextremen über Fussball-Ultras bis hin zu Partygängern.» Kritik an der Polizei gibt es sowohl aus linken wie aus rechten Kreisen.
Kommt dazu, dass manche Leute internationale Polizei-Brutalität eins zu eins den Schweizer Polizeikorps anlasten. Die Corona-Massnahmen durchzusetzen ist ebenfalls undankbar. Die Kürzel «ACAB» («All Cops Are Bastards») und «FTP» («Fuck The Police») sind auch hierzulande geläufig geworden.
Rassistische Beamte?
Fundiertere Kritik kommt von Organisationen wie dem Verein humanrights.ch. «Rassismus» lautet der Vorwurf.
Die Politik und die Polizei müssten öffentlich anerkennen, dass dieses Problem auch bei der Polizei existiere, sagt Marianne Aeberhard, Geschäftsführerin des Vereins und ehemalige Jugendrichterin. «Erst wenn man das anerkennt, kann man Massnahmen ergreifen.»
«Racial Profiling»: Kontrollen ohne Verdachtsmoment
Von fehlender Einsicht der Polizei spricht auch Gina Vega von humanrights.ch. Als wichtigstes Problem nennt sie das «Racial Profiling», wenn Beamtinnen und Beamte also Personen aufgrund von Stereotypen oder äusserlichen Merkmalen verdächtigen.
2019 erhielten Beratungsstellen von Menschenrechtsorganisationen 23 Meldungen, die Dunkelziffer sei hoch: «Viele Menschen erleben fast täglich Polizeikontrollen ohne Verdachtsmoment», hält Vega fest.
Demütigend und stigmatisierend
Die Soziologin fügt hinzu: «Wir erhalten Berichte, dass die Kontrollen oft aggressiv ablaufen. Die Leute bekommen keine Auskunft, warum sie kontrolliert werden. Sie werden vor aller Augen abgetastet. Das ist demütigend und stigmatisiert die Leute, obwohl sie sich nichts haben zuschulden kommen lassen.» Und manchmal werde Gewalt angewendet.
Auch andere Organisationen kritisieren das Vorgehen der Polizei. Der UNO-Ausschuss gegen Rassendiskriminierung (CERD) und die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) thematisieren «Racial Profiling» in der Schweiz immer wieder.
Eine unabhängige Ombudsstelle gibt es nicht
Die Polizei argumentiere damit, dass keine Beschwerden vorlägen, sagt Gina Vega. «Kein Wunder: Es gibt keine unabhängige Beschwerdestelle.»
Viele trauten sich nicht, Anzeige zu erstatten, denn: «Rassismuserfahrungen haben viel mit Ohnmacht zu tun. Darüber zu sprechen, ist schwierig. Und sich gegen eine mächtige, angesehene Institution zu wehren, ist noch schwieriger.»
Beschwerden könnten zudem kontraproduktiv sein, sagt Marianne Aeberhard: «Wer Beschwerde einlegt, kann Schwierigkeiten bekommen, etwa eine Gegenanzeige wegen Drohung gegen Polizeibeamte.»
Nicht selten nehme die Polizei Anzeigen nicht entgegen, obwohl die Strafprozessordnung sie dazu verpflichtet. Im Gegensatz zu den eingangs erwähnten Umfrageresultaten fehlen in diesen konkreten Fällen das Vertrauen in Polizei und Justiz.
Dass in der Schweiz eine unabhängige Ombudsstelle für polizeiliches Fehlverhalten fehlt, werde seit Langem international bemängelt, betont Marianne Aeberhard: «Wir fordern seit zwanzig Jahren solche Ombudsstellen, wie es sie im Ausland gibt. Denn schon bei der Voruntersuchung bräuchte es ein unabhängiges Verfahren.»
Polizei und Staatsanwaltschaft arbeiten eng zusammen, man kennt sich. «Deshalb wären interkantonale Sonderstaatsanwaltschaften nötig, die Strafuntersuchungen institutionell unabhängig durchführen.»
Die Polizei ist nicht allgemein gewalttätig, meint Gina Vega. Sie bekomme aber immer wieder Berichte über einzelne unverhältnismässige und diskriminierende Personenkontrollen.
Rassismus sei ein in der Gesellschaft fest verankertes strukturelles Problem. Alle Institutionen müssten Massnahmen ergreifen, um ihn zu bekämpfen – und die Polizei müsse auf «Racial Profiling» verzichten.
«Wir gehen professionell mit diesem Thema um»
«Wir machen kein Racial Profiling», sagt dagegen Daniel Blumer, Kommandant der Stadtpolizei Zürich. «Dass jemanden nur wegen der Hautfarbe kontrolliert wird, ist nicht zulässig. Das weiss jeder Stadtpolizist.»
Blumer sagt auch: «Wir nehmen Beschwerden sehr ernst und untersuchen beanstandete Vorgänge.» Die Stadtpolizei Zürich hat 2017/18 das Thema «Personenkontrolle» durchleuchtet.
Die Erkenntnisse seien in die Ausbildung und in eine neue Dienstanweisung eingeflossen. «Alle setzen sich immer wieder damit auseinander», hält Blumer fest. «Dass Fehler passieren oder wir vielleicht auch Polizistinnen und Polizisten haben, die das nicht für so wichtig halten, bestreite ich nicht. Aber wir betreiben grossen Aufwand, um uns in diesem Bereich immer weiter zu verbessern.»
Den Vorwurf des strukturellen Rassismus hat die Stadtpolizei Zürich vom Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) untersuchen lassen. «Sie fanden keine Hinweise, dass wir in dieser Hinsicht ein Problem haben», sagt Kommandant Blumer.
Wie in der ganzen Gesellschaft gäbe es auch bei uns Menschen mit Vorbehalten gegenüber Menschen anderer Hautfarbe oder Herkunft, so Blumer: «Ich behaupte nicht, wir seien anders aufgestellt. Aber wir gehen professionell mit diesem Thema um. Wenn wir fehlbares Verhalten feststellen, reagieren wir.»
Horst Hablitz, Leiter des Psychologischen Diensts der Kantonspolizei Aargau, verneint ebenfalls, dass «seine» Polizistinnen und Polizisten im Dienst rassistisch handeln: «Im Auftreten sind sie professionell. Polizisten wollen Sicherheit schaffen.»
Personenkontrollen fänden situations- und lagegerecht statt: «Auslöser sind die polizeiliche Lage an einem bestimmten Ort und das Verhalten von Personen.»
Strenges Aufnahmeverfahren für die Ausbildung
Wie die Polizei vorgeht, bestimmt nicht zuletzt die Rekrutierung. Die Polizei will die «richtigen Leute».
Die Rekrutierung der Kantonspolizei Basel-Stadt leitet Kim Ernst. Nur etwa 20 von drei- bis vierhundert Bewerberinnen und Bewerbern treten in die Ausbildung ein.
Die Kapo klärt auch deren charakterliche Eignung und Haltung ab, erläutert Ernst: «Wir überprüfen, ob die Kandidatinnen und Kandidaten die Werte der Kantonspolizei teilen, zum Beispiel Offenheit und Toleranz, Respekt und Wertschätzung.»
Im mehrstufigen Auswahlverfahren werde die Sozialkompetenz ersichtlich. «Wichtig ist, dass die Leute kein Schwarz-Weiss-Denken mitbringen, sondern Offenheit gegenüber Menschengruppen und Lebensformen.»
Auch die Motivation für den Polizeiberuf werde erfragt, sagt Kim Ernst: «Wir brauchen Leute, die gerne helfen, aber auch durchgreifen können. Wer ausschliesslich durchgreifen will, ist für uns eher ungeeignet.»
Psychosoziale Kompetenz ist gefragt
Persönlichkeit sei das wichtigste Anforderungskriterium, sagt Daniel Blumer, Kommandant der Stadtpolizei Zürich: «Was hat er oder sie für ein Menschenbild? Hat er das Bild, dass alle gleich sind, Wertschätzung verdienen und auch entsprechend behandelt werden müssen? Oder denkt er, dass es Bessere und Schlechtere gibt?»
Das werde während der zweijährigen Ausbildung laufend überprüft. «Es kommt immer wieder vor, dass wir uns von Leuten wegen ihres Verhaltens trennen.»
«Psychosoziale Kompetenz ist das Zauberwort», sagt Psychologe Horst Hablitz, der an der Rekrutierung der Aargauer Kantonspolizei beteiligt ist. «Wir legen Wert darauf, dass wir psychisch und physisch gesunde Leute einstellen. Wir wollen, beispielsweise wenn sie eine Todesnachricht überbringen, dass sie emotional mitschwingen können. Wir wollen keine Robocops, sondern Leute, die empathisch sind, sozial geschmeidige Leute, die gut ticken.»
Menschenrechte und Berufsethik seien in den letzten Jahrzehnten in den Polizeikorps viel wichtiger geworden, sagt Johanna Bundi Ryser, Präsidentin des VSPB. «Gerade die Jungen, die in den Dienst eintreten, kommen mit einer offenen Haltung, die uns guttut.»
«Unsere Leute sind Demokraten»
Das Selbstverständnis der Polizei als Teil des demokratischen Rechtsstaats sei «in hohem Mass» Thema im Korps, sagt Daniel Blumer, Kommandant der Stadtpolizei Zürich. «Das begleitet uns ab dem ersten Tag der Ausbildung, insbesondere die Frage nach der Verhältnismässigkeit. Das prägt auch unsere Reaktion, wenn wir Fehler feststellen.»
Im Rückblick auf mittlerweile 17 Jahre bei der Aargauer Kapo ist Horst Hablitz überzeugt: «Unsere Leute sind alles Demokraten. Die sind im besten Sinn des Wortes staatstragend.»
Und Blumer sagt: «Die Polizei hat sich parallel zur Gesellschaft entwickelt. Früher löste man eine Schlägerei auf der Strasse mit Gewalt. Andere Probleme ging man ähnlich an. Das funktioniert nicht mehr.»
Auch intern gehe man anders miteinander um: «Wenn früher ein älterer, erfahrener Polizist etwas sagte, musste man als Junger ruhig sein und hinten anstehen. Heute setzt man sich im Korps offener miteinander auseinander – und selbstkritischer.»
Wandel in Sicht
Auch Gina Vega von humanrights.ch stellt einen Wandel fest: «Es hat sich einiges verändert bei der Polizei, auch weil die Stimmen gegen Missstände lauter geworden sind. Beratungsstellen können mit der Polizei heute über Themen sprechen, die vor fünf Jahren undenkbar gewesen wären.»
Personell wird die Polizei diverser: 17 Prozent beträgt der Frauenanteil bei der Kapo Basel-Stadt. Ähnliche Zahlen melden andere Kantone und Städte, Tendenz steigend.
In Basel-Stadt sind 24 von 700 Polizisten Ausländer, Secondos sind es etliche mehr. Auch in den Kantonen Jura und Schwyz müssen Polizistinnen und Polizisten nicht mehr Schweizer sein. In der Stadt Zürich gab es diesbezüglich politische Vorstösse.
Auch wenn die Schweizer Polizei grosses Vertrauen geniesst: Nichts spricht gegen unabhängige Ombudsstellen, wie sie etwa humanrights.ch vorschlägt. Im Gegenteil: Wo sich Macht konzentriert, gilt es besonders genau hinzuschauen.
Und vergessen wir nicht: Die Polizei ist so liberal, offen oder rassistisch wie die Gesellschaft, aus der sie sich rekrutiert und der sie dient.