Der Tod des Afroamerikaners George Floyd löste eine weltweite Protestwelle aus. Doch wie nachhaltig sind die Proteste? Die Soziologin und Rassismus-Expertin Vanessa Eileen Thompson zeigt Auswege aus dem institutionellen Rassismus auf.
SRF: Rassismus und Polizeigewalt haben in den USA eine lange Geschichte. Warum führte gerade der Tod von George Floyd zu weltweiten Protesten?
Vanessa Eileen Thompson: In den USA überlagern sich derzeit mehrere Krisen. Zudem sind in den letzten Wochen mehrere Afroamerikaner durch Polizeigewalt ums Leben gekommen. Das verstärkt die Proteste.
Die Handy-Videos der grausamen Tötung gingen um die ganze Welt. Einmal mehr zeigte sich, dass Polizeigewalt gegen schwarze Menschen System hat, überall auf der Welt. Die «Black Lives Matter»-Bewegung, die 2013 begann, hatte bereits vor dem Tod von George Floyd eine internationale Dimension angenommen und reichte über schwarze Bevölkerungsteile hinaus.
Auf der Ebene der Politik hat sich aber fast nichts getan, unter Präsident Trump wurden sogar Reformen rückgängig gemacht. Darum auch der Slogan «enough is enough» («Jetzt ist genug!»).
Wo liegt der Ursprung von rassistischer Polizeigewalt in den USA?
Die Wurzeln reichen bis zur Versklavung und zum Kolonialismus zurück. Die Geschichte der Polizei, vor allem in den Südstaaten, ist eng mit der Versklavung verknüpft.
Die Gesellschaft reproduziert Rassismus und lässt ihn zu.
Die Polizei hat bei ihrer Entstehung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Kontrollpraktiken aus der Sklaverei übernommen, etwa das «Einfangen» von versklavten Menschen oder das Kontrollieren auf den Plantagen, damit es zu keinen Widerständen kommt. Viele solcher Praktiken wurden mit der Polizei institutionalisiert.
Welche Auswege sehen Sie aus diesem institutionellen Rassismus?
Ein Beispiel von institutionellem Rassismus ist das «racial profiling», also polizeiliche Kontrollen aufgrund der Hautfarbe. Dort sollte die rechtliche Grundlage verändert werden, damit «verdachtsunabhängige Kontrollen» nicht mehr möglich sind.
Konkrete Reformvorschläge von Menschenrechts- und zivilgesellschaftlichen Organisationen sind: eine Kennzeichnungspflicht des Polizeipersonals, Sensibilisierung, ein explizites Verbot von «racial profiling» in den Polizeigesetzen, und vor allem unabhängige Beschwerde- und Ermittlungsstellen. Es braucht mehr demokratische Kontrolle der Polizei.
Rassismus ist aber nicht nur ein rechtlich-institutionelles Problem, sondern auch ein gesellschaftliches Phänomen: In unseren Köpfen, Bildungsmaterialien und Medien kursieren koloniale Bilder von schwarzen Menschen als aggressive Gewalttäter und Menschen, die keinen Schutz verdienen.
Der Stadtrat vom US-Bundesstaat Minnesota möchte die Polizei nun sogar auflösen. Wieso?
Neben den Reformansätzen gibt es den sogenannten abolitionistischen Ansatz, der eine Abschaffung fordert. Die Position des Abolitionismus geht ursprünglich auf Kämpfe zur Abschaffung von Sklaverei um 1800 zurück. Deren Vertreter glaubten, dass das System der Versklavung nicht reformiert oder verbessert werden kann, sondern als Ganzes abgeschafft werden muss.
Der neuere Abolitionismus zeigt, dass es trotz der Abschaffung von Sklaverei nach wie vor Unterdrückung und Diskriminierung in den USA gibt. Und zwar im Strafsystem ebenso wie durch die Polizei.
Schwarze Menschen sind überproportional in Gefängnissen vertreten, werden öfter von Polizisten erschossen und erhalten vor Gericht höhere Strafen.
Wie sieht das in der Praxis aus, wenn die Polizei ganz abgeschafft wird?
Abolitionismus bedeutet nicht einfach Abschaffung. Es geht vielmehr um die Stärkung der Institutionen sozialer Gerechtigkeit, sozio-ökonomischer Absicherung, Zugang zu Bildung und zum sozialen Wohnen. Ein Vorschlag ist, dass die Behörden Ressourcen von der Polizei abziehen, um dafür soziale Institutionen zu stärken.
Empirisch lässt sich zeigen, dass Gesellschaften mit guter medizinischer Versorgung, guter Absicherung, Bildung und sozialer Gerechtigkeit weniger Kriminalität haben.
Derzeit erleben wir eine weltweite Solidarität, auch unter weissen Menschen. Sollen sich weisse Personen den Protesten anschliessen?
Die grosse Solidarität ist sehr erfreulich, aber die Leute müssen wissen, dass «Black Lives Matter» kein Protest für den Moment ist, sondern ein langfristiges und dauerhaftes Einstehen gegen Rassismus.
Es braucht mehr demokratische Kontrolle der Polizei.
Es braucht eine intensive Auseinandersetzung mit Rassismus, im Alltag ebenso wie in Institutionen. Wir alle sind gefordert, ein Engagement für langfristige Lösungen gegen Diskriminierung zu zeigen. Das Problem beim Rassismus sind nicht die Menschen, die ihn erfahren, sondern die Gesellschaft, die ihn reproduziert und zulässt.
Das Gespräch führte Yves Bossart.