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Proteste in der Türkei Schockstarre in der türkischen Kulturszene

Nach der Verhaftung des Istanbuler Stadtpräsidenten stimmen auch Kunstschaffende in den Protest ein und fordern Gerechtigkeit.

Nach der Amtsenthebung und Verhaftung des Istanbuler Stadtpräsidenten Ekrem Imamoglu protestieren in der Türkei seit Tagen Hunderttausende Menschen. Fast 2000 wurden festgenommen. Inzwischen melden sich auch türkische Kunstschaffende zu Wort. Der Komponist Fazil Say war – wie so oft – der erste Künstler, der die Proteste kulturell verarbeitete.

Die Kultur bricht ihr Schweigen

In den sozialen Medien veröffentlichte er ein Video mit einem Lied, unterlegt mit Bildern von den Schuhen, die Demonstrierende auf der Flucht vor Wasserwerfern und Tränengas verloren. Mit den Schnürsenkeln hat sie jemand säuberlich an einem Polizeigitter aufgehängt, falls die Besitzer zurückkommen.

«Auf welchen Wegen haben meine Schuhe mich getragen?», heisst es übersetzt in dem Gedicht von Nazim Hikmet, welches die Jazzmusikerin Su Tuna dazu singt. «Mein Heimatland» heisst eines der bekanntesten Werke des grossen Dichters.

Person sitzt neben einem Flügel in einem Raum.
Legende: Fazıl Say ist ein international bekannter türkischer Pianist und Komponist. Er engagiert sich in der Türkei für Bürgerrechte. KEYSTONE/DPA/Bernd Thissen

Lange dauerte es diesmal, bis die geschockte Kulturszene sich zu Reaktionen durchringen konnte. Entsetztes Schweigen war tagelang alles, was von Künstlerinnen und Künstlern zu vernehmen war. Zu gross die Gefahr, von der Polizei aus dem Bett geholt und verhaftet zu werden, wie es vielen Studentinnen und Journalisten widerfuhr.

«Sie schweigen, weil sie Angst haben»

Der erste entschlossene Protest aus der Kulturszene kam von der Popsängerin Seren Serengil, die auch als Film- und Fernsehschauspielerin bekannt ist. In einem Social-Media-Video wandte sie sich an die türkische Regierung, die gerade alle Proteste verboten hatte: «Nichts dürfen wir. Alles ist verboten. Ihr verbietet uns, auf die Strasse zu gehen. Ihr verbietet uns, öffentlich, unsere Meinung zu sagen. Ihr drosselt die sozialen Medien, ihr stoppt sogar die U-Bahn, damit wir nicht demonstrieren. Und dann behauptet ihr, wir seien frei.»

Ihr sei schon klar, dass sie jetzt weniger Rollen beim Fernsehen bekommen werde, sagte Seren Serengil. Die Regierung solle aber nicht glauben, dass sie alle Künstler hinter sich habe. «Ja, viele Künstler schweigen. (...) Glaubt ihr denn, dass sie schweigen, weil sie euch zustimmen? Nein. Sie schweigen, weil sie Angst haben.»

Frau mit hellem Haar und weissem Outfit vor rotem Hintergrund.
Legende: Seren Serengil ist eine türkische Fernsehmoderatorin, Sängerin und Schauspielerin. Sie hat in zahlreichen Filmen, Serien und Fernsehshows mitgewirkt. Wikimedia Commons/TV100

Angesichts solcher Vorstösse und der Massenproteste haben sich inzwischen auch andere Künstler ein Herz gefasst und gemeinsame Protesterklärungen unterzeichnet. Eine Gruppe von Schriftstellern wagte es sogar, ihr Protestschreiben öffentlich vorzutragen.

Kulturschaffende für Gerechtigkeit

Die Sprecherinder Gruppe, die Romanautorin Ayfer Tunç, teilte dabei mit: «Die Jugend und das Volk protestieren auf der Strasse zu Recht gegen anhaltendes Unrecht und Ungerechtigkeit. Als Literaten der Türkei werden wir zu diesem undemokratischen Vorgehen nicht schweigen. Wir gehen auch auf die Strasse und sagen Nein zu diesem Unrecht.»

«Hak – Hukuk – Adalet», «Recht – Gesetz – Gerechtigkeit», skandieren sie dann. Unterzeichnet wurde ihre Erklärung von 190 Literaten. Ins Rampenlicht wagen sich aber immer weniger Kulturschaffende.

Auch Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk meldete sich erst zehn Tage nach der Festnahme. Bisher habe die Demokratie in der Türkei zwar enge Grenzen gehabt, schrieb Pamuk in einem Beitrag für das türkische Nachrichtenportal T24. Immerhin hätten die Türken aber trotz der Einschränkungen für die Meinungsfreiheit die von ihnen favorisierten Politiker wählen können. Damit sei es jetzt vorbei.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 28.3.2025, 7:06 Uhr

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