Queere Identität und christliche Theologie – geht das zusammen? Sehr gut sogar, findet die queere Theologin Linn Tonstad.
Sie plädiert dafür, alte Strukturen neu zu denken. Und sich durch die Auseinandersetzung mit Stigmata dem Glauben und Gott aus neuer Perspektive anzunähern.
SRF: Was genau will queere Theologie anders machen als herkömmliche Theologie?
Linn Tonstad: Es gibt zwei Strömungen von queerer Theologie. Die eine ist aus der Schwulen- und Lesbenbewegung heraus entstanden. Sie ist oft als bejahende Theologie entwickelt worden, im Sinne von: Das Christentum sagt dir, es sei schlecht, homosexuell zu sein. Schwule oder lesbische Theologie sagt dir aber: Es ist ok, dass du homosexuell bist.
Die Vorstellung, dass Jesus menschlich und göttlich zugleich ist – das ist queer, weil so die Kategorien Mensch und Gott gesprengt, ja Grenzen überschritten werden. Aber für mich geht es um mehr.
Bei der queeren Theologie gilt das auch für alle anderen Optionen: Du bist bisexuell, pansexuell, trans oder inter – und queere Theologie sagt, das ist okay. Gott hat dich so geschaffen und liebt dich, wie du bist.
In den USA ist das die vorherrschende Form von queerer Theologie. In diesem Bereich wird viel publiziert, Bücher verkaufen sich gut, Vorträge sind beliebt. Es geht dann zum Beispiel um die Vorstellung, dass Jesus menschlich und göttlich zugleich ist – das sei queer, weil so die Kategorien Mensch und Gott gesprengt, ja Grenzen überschritten werden.
Wie sieht die andere Richtung von queerer Theologie aus?
Mich begeistert jene queere Theologie, die viel weiter denkt und verschiedene Arten von Stigmata und Unterdrückung verbindet. Menschen werden ja nicht nur wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert. Unterdrückt werden sie auch wegen ihrer Herkunft oder wegen ihrer Arbeit, weil sie etwa Sexarbeit nachgehen.
Ich bin überzeugt, dass wir vom Leben stigmatisierter Menschen lernen können und zu neuen, grundlegenden Fragen über Gott, Jesus oder Erlösung kommen.
Können Sie ein konkretes Beispiel machen?
Wenn es etwa darum geht, wer im Namen von Jesus Christus sprechen darf, geht es ja immer auch um Autorität. Kritisch können daher etwa die Weihe oder Kirchenämter und damit Hierarchien hinterfragt werden.
Gemeinschaft kann von unten her und ohne Vermittlung durch einen kirchlichen Würdenträger entstehen.
Jesus sagt in der Bibel: «Wenn zwei, drei in meinem Namen zusammenkommen, dann bin ich mitten unter ihnen.» Wenn also Menschen im Namen von Jesus Christus zusammenstehen, kann Gemeinschaft von unten her entstehen und ohne Vermittlung durch einen kirchlichen Würdenträger.
Queere Theologie ist also auch immer sozialkritisch?
Auf jeden Fall! Weil queere Theologie – zumindest so, wie ich sie verstehe – stark von befreiungstheologischen Impulsen inspiriert ist. Also dass es immer auch darum geht, die sogenannten Armen und Schwachen zu befreien und zu ermächtigen, ein gutes Leben für alle zu schaffen.
Sie unterrichten an der Yale Universität, gerade auch, weil Sie sich mit queerer Theologie beschäftigen. Wie etabliert ist diese Art von Theologie an den Universitäten?
Die Nachfrage steigt. Mein Lehrstuhl etwa wurde konzipiert, weil die Studierenden so etwas haben wollten. In den USA ist queere Theologie sicher etablierter als in Europa oder in der Schweiz. Aber auch wir müssen um Forschungsgelder kämpfen oder uns verteidigen, wenn bestimmte Menschen die alte Ordnung unverändert lassen wollen.
Das Interview führte Léa Burger.