Es sind 140 Quadratmeter voller Trauer, Wut und Zärtlichkeit. In den Räumlichkeiten eines ehemaligen Ladens gibt es seit knapp einem Jahr die « Initiative 19. Februar ».
Hier treffen sich Hinterbliebene und Freunde der Getöteten, sieben Tage die Woche. Es ist quasi das Wohnzimmer der Kinder, wie hier die Getöteten genannt werden.
Angehörige fordern Aufklärung
Im hinteren Teil steht eine rote Polstergruppe. Darüber prangt ein schwarzes Banner: «Wir fordern: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen». Filip Goman hat sich gerade aufs Sofa gesetzt.
Er ist 57, früher Teppichhändler. Seine Tochter Mercedes Kierpacz ist 35, als sie von einem Rassisten in Hanau erschossen wird. «Eine Katastrophe», Filip Goman ringt mit den Worten, der Schmerz lasse sich nicht in Worte fassen. «Wissen Sie, mein Grossvater wurde in Auschwitz von den Nazis vergast. Und meine Tochter wird von einem Rechtsterroristen in Hanau erschossen. Wieso?».
Wieso? Diese und viele weitere ungeklärte Fragen quälen die Angehörigen.
«Wir klagen an!»
Immer wieder geht die Tür auf, Passanten kommen rein in den vorderen Teil des ehemaligen Ladens. Hier sieht es aus wie in einem Politbüro. Von hier aus wird organisiert, unter anderem monatliche Gedenkveranstaltungen.
Am Boden liegen stapelweise Plakate. Auf weiss, ein schwarzes zerbrochenes Herz und die Namen der Opfer. Plakate für den Jahrestag. Auf einem anderen Plakat steht in grossen Buchstaben: «Wir klagen an!»
Denn einige der Fragen rund um den Anschlag in Hanau sind in der Zwischenzeit nicht mehr nur Fragen. Es sind begründete Vorwürfe.
Gemeinsam mit Journalisten und Journalistinnen haben die Hinterbliebenen im letzten Jahr recherchiert und Fakten zusammengetragen, die erschaudern lassen. «Wir müssen in die Ermittlerrolle schlüpfen. Nur so bewegen sich die Behörden», sagt Newroz Duman. Sie ist Mit-Initiantin der Initiative.
Rund um das Attentat von Hanau kam es zu folgenschweren Versäumnissen seitens der Polizei. Viele der Ungereimtheiten sind nur dank der Arbeit der Hinterbliebenen und Medienschaffenden ans Licht gekommen.
Notruf nicht besetzt
Eindrückliches Beispiel: Der Notruf war in jener Nacht unterbesetzt. Vili Viorel Păun nimmt mit seinem Auto die Verfolgung des Täters auf, nachdem dieser bereits drei Menschen erschossen hat.
Dreimal versucht Vili die Polizei zu erreichen. Keiner nimmt ab. Später wird Vili am zweiten Tatort erschossen. Der Täter erschiesst fünf weitere Menschen. Newroz Duman fragt, hätte das Blutbad am zweiten Tatort verhindert werden können?
«Ferhat ist gefährlich, Tobias nicht»
Das fragt sich auch Serpil Unvar pausenlos. Sie ist die Mutter von Ferhat, der am zweiten Tatort starb. Serpil Unvar hat früher für eine kurdische Zeitung geschrieben. «Wenn ich heute die Augen öffne, habe ich Albträume», sagt sie, sie sehe eine Gesellschaft, in der Menschen, die Tobias heissen, anders behandelt werden, als solche die Ferhat heissen.
Der Täter Tobias war den Behörden als rechtsextrem bekannt. Zwei Wochen vor dem Anschlag veröffentlicht er im Internet ein rassistisches Manifest, in dem auch seine Auslöschungsfantasien stehen. Eine Hausdurchsuchung gibt es trotzdem nie. Die Polizei hätte bei ihm viele Waffen und Munition gefunden.
Serpil Unvar sagt, hätte ihr Sohn so eine Hass-Website veröffentlicht und zu Mord an Deutschen angerufen, die Polizei wäre am nächsten Tag vor der Tür gestanden: «Das ist struktureller Rassismus.»
Namen nicht vergessen
Wieder geht die Tür auf. Jemand fragt nach einem T-Shirt. Die Initiative hat weisse T-Shirts gedruckt. Auf dem Rücken die Namen und Gesichter der Getöteten. Auf der Brust «Say their names»: Sagt ihre Namen.
Die Initiative 19. Februar hat etwas geschafft, was neu ist. Die Namen und Gesichter der Ermordeten, nicht jenes des Täters, werden in die Öffentlichkeit getragen.
Heute sagt Ayşe zum Daniel «spring»
An einer Wand hängen die Portraits der Getöteten. Adem Aslan schaut sie an. Er hat einen Cousin verloren. Seit der Tat fühlt er sich entfremdet von seiner Heimat. Vor kurzem habe er geheiratet, Kinder möchte er aber nicht mehr. «Ich habe Angst in Deutschland Kinder grosszuziehen. Die rechte Bewegung wird hier immer grösser, weil die völlige Narrenfreiheit haben.»
Viel Bitterkeit. Viele Deutsche hätten Ressentiments. Er kann nur vermuten, warum das so ist: «Früher waren wir Arbeiter. Heute ist ein Ali ein Anwalt. Heute ist eine Ayşe Ärztin. Früher haben die Deutschen zu uns gesagt: Ayşe spring. Heute sagt Ayşe zu Daniel spring. Damit kommen die nicht klar.»
Warum diese Tat?
Eine Antwort gibt es keine. Aber Newroz Duman sagt, was für die meisten hier eine schmerzliche Erfahrung ist: «Das, was in Hanau passiert ist, ist nicht vom Himmel gefallen. Die Stimmung der letzten Jahre war geprägt von Hass und Hetze.»
Hetze, nicht nur von der AfD. Newroz Duman erinnert an die Worte des Deutschen Innenministers Horst Seehofer, der sagte, Migration sei die Mutter aller Probleme. «Es herrschte eine migrationsfeindliche Stimmung. Sodass sich Rassisten wie der Täter von Hanau in ihrem Hass bestätigt fühlten.»
Mit aller Kraft stellt sich die Initiative diesem Hass entgegen. Die Angehörigen, die Hinterbliebenen und alle anderen hier im Wohnzimmer, das sie für ihre Kinder gemeinsam geschaffen haben. Müde von einem langen Jahr, aber unermüdlich.