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Retro-Romantik Im Gestern daheim, der Zeit voraus?

Mario Waser lebt mit Haut und Haaren in vergangenen Zeiten. Gerade deswegen sei er seiner Zeit voraus, meint er.

Er kommt mit dem Velo angerast. «Ich fahre wie ein Satan», sagt Mario Waser. Severin heisst sein englisches Raleigh-Velo. Es ist über 80, hat drei Gänge, gute Lager und eine Velolampe von 1923. «Ich habe das Velo schon mehr als 20 Jahre. Solche ‹Göppel› kann man reparieren.»

Doppelmeter und Sonntagstracht

Mario Waser trägt Schiebermütze, ein kariertes Hemd und Lederschuhe. In seiner Arbeiterhose aus Cord steckt ein Doppelmeter. «Gerade helfe ich auf der Baustelle eines Kollegen», sagt er. Deswegen die «Arbeitshuddle», seine Arbeitsbekleidung.

Ein rauchender Mann mit Mütze, seine linke Hand lehnt lässig auf einem alten Fahrradlenker.
Legende: Rauchzeichen aus der Vergangenheit: Mario Waser mit seinem geliebten «Göppel». SRF / Lukas Keller

Waser kleidet sich entsprechend dem Anlass. Wie sich das gehörte in jener Epoche, die ihn besonders fasziniert: die Zeit zwischen 1900 und 1950. Am Sonntag trägt er eine Sonntagstracht. Für hohe Festivitäten stürzt Waser sich in Frack oder Smoking, die Musikhose trägt er zum Tanz.

Links geht der Mann

«Ich bin fasziniert von vergangenen Dekaden», sagt Waser. «Von jener Zeit, als die Industrialisierung gerade erst am Kommen war. Die Dinge aus jener Zeit lassen sich reparieren. Man warf nichts weg, sondern trug den Dingen Sorge.»

Generell hätte man zu jener Zeit mehr Sinn für Werte gehabt. So bedauert Waser es, dass heute junge Männer nicht mehr wüssten, warum man links der Frau zu gehen hat.

Ja, warum muss man denn? «Wenn ein Geschoss kommt, ist das Herz der Frau geschützt», sagt Waser und muss selber ein bisschen schmunzeln.

Ein Mann mit Schiebermütze sitzt lächelnd hinter einer alten Schreibmaschine.
Legende: Zum Beispiel Schreibmaschinen: Mario Waser mag Dinge, die sich flicken lassen. SRF / Lukas Keller

Retro boomt

Mario Waser lebt bereits seit Jahren in seiner eigenen Zeit – und ist damit Vorreiter eines Trends. Der Historiker und Autor Valentin Groebner beobachtet das Phänomen schon länger.

«Mir scheint, diese Rückgriffe auf eine alt gewordene Moderne sind seit dem Jahr 2000 deutlich mehr geworden», sagt Groebner. «Das kann man an der Unterhaltungskultur deutlich zeigen.»

Es ist die Swingmusik der 1930er-, der Rock'n'Roll der 1950er- oder die Mode und der Einrichtungsstil der 1960er-Jahre, die allenthalben wiederaufleben. Viel weiter zurück reicht der Retro-Trend meist nicht.

Blick zurück nach vorn

Valentin Groebner erklärt dies mit den Ton-, Bild- und Film-Aufzeichnungen, die ja erst im 20. Jahrhundert aufkamen. «Für den ganzen Begriff des Retro ist es wichtig, dass es eine technisch hergestellte Erinnerung gibt, die noch zugänglich ist.» Dank Bildern und Tonaufzeichnungen werden alte Zeiten erst emotional erfahrbar.

Beim Retro gehe es aber nicht nur um die Vergangenheit, sagt der Historiker Valentin Groebner, sondern um unsere unmittelbare Zukunft. «Wir verwenden die Vergangenheit nicht, weil wir etwas von ihr wissen wollen», sagt Groebner, «sondern weil uns die Vergangenheit für die Bewältigung der Zukunft brauchbar erscheint.»

«Meine Lebensweise ist unserer Zeit voraus»

Das trifft auch auf Trendsetter Mario Waser und dessen Selbstverständnis zu. Waser geht es um Werte – um materielle und ideelle.

Waser will die Vergangenheit nicht verklären. Er glaubt, man könne aus alten Zeiten gewisse Sachen mitnehmen und bewahren. «Meine Lebensweise ist unserer Zeit voraus», sagt Waser.

Eine Hand schreibt mit einem Füller in ein Heft.
Legende: Dialektik eines Nostalgikers: Die Brille scheint von gestern, der Stift ist von heute. SRF / Lukas Keller

Stichwort Nachhaltigkeit. Waser fährt mit dem Velo in die Ferien. Wenn seine Frau dabei ist, mit Tandem und Anhänger. «Wenn ich von der Verschmutzung der Meere durch Plastikmüll lese, dann weiss ich: Ich habe keine PET-Flasche verloren im Meer, ich benutze nur eine alte Camping-Flasche, seit Jahren.»

Der Wert der Dinge

Aber warum faszinieren ihn ausgerechnet die Jahre zwischen 1900 und 1950? Eine Zeit voller Krieg in Europa?

«Ich verherrliche diese Zeit auf keinen Fall: Es war hart, die Leute mussten krampfen, es war Krieg. Aber die Leute hatten ein Gespür für den Wert der Dinge. Ganz im Gegensatz zur heutigen Wegwerfgesellschaft.» Den Dingen Sorge tragen: Das ist Mario Waser wirklich wichtig.

Im Übrigen habe er durchaus heutige Ansichten. «Ich bin in der Welt herumgekommen. Viele Jahre habe ich auf Kreuzfahrtschiffen gearbeitet, mit Menschen aus aller Welt», sagt der gelernte Koch und Kellner.

Ohne Handy geht’s nicht, leider

Auch Mario Waser kommt nicht ganz um das 21. Jahrhundert herum. So hat er in der Zwischenzeit ein Handy: «Prepaid! Kein solches Streicheldings – das ist ein rotes Tuch für mich.» Er benutzt E-Mails und Social Media «aus beruflichen Gründen».

Ein Mann im Retro-Look sitzt schreibend in einem Restaurant.
Legende: Hut ab vor der Warenqualität von früher: Retro-Romantiker Mario Waser im Restaurant. SRF / Lukas Keller

Mario Waser ist Gastgeber des feRUS, ein Gastrobetrieb in der Zentralschweiz. Da mache er Kompromisse. Ansonsten: Kleidung, Haltung, Stil – Mario Waser scheint einer anderen Zeit entsprungen.

Über die heutige Zeit kann er häufig nur den Kopf schütteln. Er habe an einer seiner Uhren einmal den kaputten Lederbändel ersetzen lassen wollen, erzählt Waser. «Aber in ganz Luzern – notabene die grösste Uhrenstadt der Welt – fand sich kein Uhrengeschäft, das dazu in der Lage war.»

Beim Schuhmacher besorgte Waser sich dann selber ein Stück Leder. Die Uhr läuft noch heute.

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