Retro heisst bei uns mitunter 1920er-Jahre-Partys, Vinylplatten oder Nierentische. Aber was bedeutet Retro in den USA, Uruguay, in Kenia, der Türkei oder Russland? Fünf SRF-Korrespondentinnen und -Korrespondenten berichten über Retro weltweit.
Kenia: Ein altes Auto ist der letzte Schrei
Mein Auto in Nairobi ist ein neuer Oldtimer. Es ist ein VW Golf, 14-jährig. Er sieht aber aus wie 40-jährig. Doch nicht etwa wegen Beulen und Schrammen. Sondern weil es das allererste Modell des VW Golf ist. Für Kenner: MK1. Dieses wurde bis vor zehn Jahren in Südafrika noch hergestellt.
Das kleine goldene Auto findet grosse Beachtung. Es gibt Komplimente von Polizisten und Kaufofferten auf der Autobahn – von der Überholspur aus.
Gut erhaltene Autos sind in Kenia selten. Denn: Einerseits lieben die Kenianer neue Sachen, andererseits sind sie nicht besonders am Unterhalt interessiert – wenn man das mal so pauschal sagen darf.
So werden in Nairobi ständig neue glitzernde Wolkenkratzer in die Höhe gezogen. Darin tropft es schon nach wenigen Monaten von der Decke. Alte Gebäude hingegen gibt es nur noch wenige. Gut, auch die tropfen in der Regenzeit.
Auf der Strasse sind neben all den heruntergekommenen Minibussen und Kleinwagen in Nairobi unglaublich viele glänzende Porsche Cayenne und Toyota Landcruiser unterwegs.
Die neuesten Modelle haben den Vorteil, dass sie von anderen Verkehrsteilnehmern respektiert werden beim Kampf um den Vortritt. Wer will denn schon den ersten Kratzer im Lack verursachen?
Die Ausnahme: mein VW Golf. Der ist so gut erhalten, dass er Oldtimerstatus hat und respektiert wird. Vielleicht mögen Kenianer alte Dinge gerade deshalb, weil es sie hier im Land so selten gibt. (Samuel Burri)
Uruguay: Montevideo ist die Hauptstadt der Nostalgiker
Schwer zu sagen, was Montevideos Charme ausmacht. Die rissigen, mit Patina überzogenen Fassaden dieser Stadt, die einst glänzenden Kolonialpaläste und Art-Déco-Villen werden vom Wind gezaust, vom Wasser belagert.
Nachts erklingt der schwere Rhythmus der Tambores: der Klang jener Trommeln, die einst mit den Sklaven in die Hafenstadt gebracht wurden. Im alten Vergnügungspark Rodó dreht das rostige Riesenrad noch immer seine Runden.
In Montevideo regiert eine andere Zeit. Sie wird konserviert und gepflegt und jeden Sonntag ausgestellt auf dem riesigen Trödelmarkt Tristan Narvaja, mit seinen Wühlkisten und Teppichen voller Schallplatten, Medaillen und angelaufenem Silberschmuck.
«Du bist das Buenos Aires, das wir einmal hatten, und das sich mit den Jahren leise davongemacht hat», schrieb der Argentinier Jorge Luis Borges über Montevideo. Daran hat sich kaum etwas verändert.
Uruguays Hauptstadt schwelgt in der Sehnsucht nach ihrem einstigen Glanz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als boomende Fleischexporte das kleine südamerikanische Land zu einer der fortschrittlichsten und reichsten Nationen der Welt machte.
Ein konspirativer Klub der Nostalgiker, nennt der Schriftsteller Hugo Burel seine Mitbürger augenzwinkernd. Tatsächlich feiern die Uruguayer jedes Jahr eine Nacht der Nostalgie, ein Feiertag, an dem das ganze Land zu den Hits alter, längst vergangener Zeiten tanzt. (Anne Herrberg)
Türkei: Sehnsucht nach einer friedlichen Geschichte
Griechische Dörfer an der Ägäis, aramäische Klöster in Südostanatolien und die einst multireligiöse Stadt Antiochien im Süden der Türkei – das sind derzeit Renner im türkischen Binnentourismus.
Griechen, Aramäer oder Armenier sind dort allerdings keine mehr zu finden, denn die christliche Bevölkerung von Anatolien wurde im 20. Jahrhundert fast vollständig vernichtet und vertrieben.
Statt ihrer flanieren heute türkische Reisegruppen, Schulklassen und Familienausflügler durch ihre Dörfer, bestaunen die pittoresken Häuser und decken sich an Souvenirständen mit Andenken ein.
Reiseführer erzählen von der Toleranz des Osmanischen Reiches und beschwören eine verklärte Vergangenheit, in der Friede, Freude und Gemeinsamkeit herrschten.
Mit einem Seufzer erinnert sich dann immer mal wieder einer der Reisenden an einen griechischen Nachbarn. Oder an die freundlichen Beziehungen seiner Grosseltern zu ihren armenischen Nachbarn.
Diese Nostalgie steht in krassem Widerspruch zur Realität dieser Vergangenheit, die von Mord und Totschlag, Vergewaltigung und Raub geprägt war. Doch der Völkermord an den Armeniern und Aramäern und die Vertreibung der Griechen sind in der Türkei noch immer weitgehend tabu.
Erste Ansätze einer Aufarbeitung wurden im letzten Jahrzehnt wieder erstickt. Öffentlich wird bis heute nicht viel mehr zu dem Thema gesagt, als dass es sich um infame Lügen des Westens handele.
Doch ganz verdrängen lässt sich die Erinnerung an Millionen einstige Mitbewohner von Anatolien nicht. Ihren Ausdruck findet sie in einer verklärten Nostalgie: Einst lebten hier Griechen, Armenier und Aramäer, und das war schön. Nun sind sie fort, und es ist nicht mehr schön hier. Doch die Frage, warum sie fort sind – die wird nicht gestellt. (Susanne Güsten)
USA: Nachgestellte Schlachten, Bier und Barbecue
Die Vereinigten Staaten haben eine offizielle Geschichte, doch ihren Bewohnern fehlt eine gemeinsame Vergangenheit. In dieses Land der Immigranten bringen alle ihr eigenes kulturelles Erbe.
Deshalb muss die Illusion eines kollektiven Gestern ständig neu beschworen werden. Am liebsten beim Nachstellen historischer Schlachten.
So pilgern an die Schlacht von Gettysburg Anfang Juli jeweils bis zu 50'000 Menschen, um 15'000 Laiendarstellern drei Tage lange dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig niedermetzeln.
Natürlich ziehen die Toten und Verwundeten, anders als die 50'000, die dieses Blutbad im Amerikanischen Bürgerkrieg tatsächlich gefordert hat, heute wieder quietschfidel von dannen.
Dasselbe gilt für die Opfer des Unabhängigkeitskrieges und der Schlacht von New Orleans, für die Versehrten der Seminolen-Kriege und die der abgewehrten britischen Invasion von 1812.
Dieser Mangel an Authentizität tut der identitätsstiftenden Wirkung von Pulverdampf und Kanonen jedoch keinen Abbruch. Denn was wirklich zählt, ist das Wir-Gefühl bei Bier und Barbecue nach geschlagener Schlacht, wo Gewinner und Verlierer in patriotischer Eintracht schwelgen.
Bei über drei Dutzend Veranstaltungen dieser Art pro Jahr ist die einzige Qual die Wahl. (Sacha Verna)
Russland: Was nicht reich ist, ist nicht schön
In Russland pflegt man einen beherzt rustikalen Umgang mit der Vergangenheit. Mit Fragen nach Echtheit und Original hält man sich nicht lange auf. Restaurierungen erfahren mitunter eine entsprechend grosszügige Auslegung: Die Gebäude werden abgerissen und originalgetreu wieder aufgebaut. Nur eben mit Tiefgarage und vielleicht noch ein bisschen schöner.
Wohnungsmuseen von Schriftstellern, Musikern oder Malern sind voll möbliert mit Tischen, Stühlen, Schränken und Betten, die zu den Künstlern selbst jedoch oft keinerlei Bezug haben. Hauptsache es entsteht ein schönes, rundes, will sagen historisch bruchloses Bild. Man ist schliesslich mit Herz und Seele bei der Sache.
Die Vergangenheitsseligkeit in Russland ist gross. Vor allem das Erhabene des Klassizismus wird fleissig herbeizitiert. Zu Zeiten Stalins war diese Begeisterung schon einmal in einer «Tyrannei des Schönen» aufgegangen. Genau genommen herrscht in Russland ewige Antike, heute nicht besonders streng, vielmehr landestypisch putzig mit Türmchen und Erkern kombiniert.
So viel Freiheit muss Retro schon bieten. Die Datschen reicher Russen wiederholen gern den Kolonnadenzauber zaristischer Sommer- und Lustschlösschen. Grosse Vasen akzentuieren Toreinfahrten, bei der Inneneinrichtung wird nicht an Stuck, Kronleuchtern und opulent drapierten Vorhängen gespart und die Uhr auf dem Kamin tickt wie bei Puschkin.
Auch der Kunstgeschmack wurzelt fest im klassisch-akademischen Stil: Landschaften, Stillleben und Porträts. Porzellanfiguren stehen auch hoch im Kurs, egal ob aus dem 19. Jahrhundert oder aus der Stalinzeit, gleich ob original oder nagelneu. Einen Lada oder Schiguli aber würde kaum ein Russe freiwillig fahren – da hört Retro auf. Was nicht reich ist, ist nicht schön und erinnert zu sehr an den Mangel der Sowjetzeit und die als Katastrophe wahrgenommene Revolution.
Die sowjetische Retrowelle läuft eher über Schlager, Animationsfilme für Kinder oder Aljonka-Schokolade, auf deren Verpackung ein Mädchen mit rotem Kopftuch und rosigen Wangen gesellschaftlich relevantes Wohlergehen versprüht.
Auch in der Politik stehen die Zeichen auf Retro. Geschichte wird massgeschneidert und Atemzug für Atemzug in die Gegenwart geholt. Das Zentrum des Geschichtstaumels bildet der 9. Mai, der Sieg im Zweiten Weltkrieg. Er ist inzwischen fast ganzjährig präsent. Man könnte in Russland glatt mit den Jahren durcheinander kommen. (Christine Hamel)