Wer heute von seinen Urlaubsplänen erzählt, schiebt gerne mal ein «Ich weiss ja, dass man eigentlich nicht mehr fliegen sollte.» hinterher oder postet #Flugscham, um die angemessene Scham zu signalisieren. Laut Philosoph Robert Pfaller ist die Scham zum Distinktionsmerkmal geworden, das vor allem dazu nütze, selbst gut dazustehen.
Im ständigen Aufruf zur Scham sieht Pfaller nicht nur eine nervige Spassbremse, sondern eine Art Statussymbol, das manche vor sich hertragen, wie eine teure Handtasche. In einer Zeit, in der Menschen durch Social Media zunehmend exponiert sind, sei es zur riesigen Angst geworden, sich eine Blösse zu geben.
In seinem Buch «Zwei Enthüllungen über die Scham» bietet Robert Pfaller eine philosophische Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Debatte um das Thema «Shaming» und will dabei mit Irrtümern über die Scham aufräumen.
Eher soziale Angst als Scham
Anderen zu sagen, sie sollten sich schämen, werde zunehmend zur Erziehungsmassnahme oder zum Denunziationsmittel, findet Pfaller: Wenn sie sich schlecht ernähren, ihre eigenen Privilegien nicht erkennen (man denke an die Tiktok-Challenge «Check Your Privilege») oder Umweltsünden begehen.
Ein bekanntes Beispiel: der «alte weisse Mann». Dieses «Shaming» sei gleich die moralische Infragestellung einer Person an sich, die über blosse Schuldzuweisung hinausgeht und so die Message sende: «Verschwinde. Wir wollen dich nicht.»
Unklar sei, so Pfaller, ob das wirklich Scham in denjenigen auslöst, denen sie aufgenötigt wird: «Was wir heute erleben, ist eigentlich nicht Scham, sondern viel eher soziale Angst.»
Wenn jemand an den Pranger gestellt wird, zum Beispiel ein Konzern, weil er die Umwelt verpestet, dann hat womöglich niemand vom Konzern wirkliche Schamgefühle. Aber es herrscht grosse Angst, dass die Kunden entgehen.
Die unkontrollierbare, innere Scham
Man habe, so Pfaller, der Scham fälschlich zugeschrieben, dass sie aussengesteuert wäre. Tatsächlich könne echt Scham gar nicht von aussen induziert werden, sondern entstehe ganz unkontrollierbar von innen heraus. Wer kann schon vorsätzlich bewirken, dass das Herz klopft vor Peinlichkeit, dass das Gesicht heiss wird von der Schamesröte – bei sich oder bei anderen?
Im Gegensatz zu Schuldgefühlen, sind es die Fehltritte oder Normabweichungen, für die jemand nichts kann, die Scham auslösen: zum Beispiel ein Blackout bei einer Rede, ein Fleck auf der weissen Hose oder eine Strandfigur, die nicht dem Ideal entspricht. Entscheidend ist dabei, dass es von anderen bemerkt wird.
Hier glaubt Pfaller heute einen wichtigen Unterschied zu vergangenen «Schamkulturen» zu erkennen: während es früher ein Diskretionsgebot gab, über die Peinlichkeiten anderer schweigend hinwegzusehen, empfinde man heute grosse Lust daran, lautstark auf sie hinzuweisen.
Diese Kultur des gegenseitigen Beschämens entsolidarisiere Menschen. Gerade bei kritikwürdigem, unethischem Verhalten könnte es also produktiver sein, von Schuld zu sprechen, als von Scham. Schliesslich, so Pfaller, sei es möglich, sich zu entschuldigen – nicht aber, sich zu «entschämen».