Mar Wieland und Roman Steiner sehen sich tief in die Augen, lachen ein wenig und fangen dann – ohne ein Wort zu sagen – im gleichen Rhythmus zu trommeln an. Sie hätten schon viel Übung, verraten sie nach dem Trommeln. Denn sie benutzten immer denselben Rhythmus an ihren Seminaren und Ritualen.
Dieser Rhythmus sei die Grundlage ihrer Rituale. Durch ihn würden sie einen Trancezustand erreichen. So könnten sie mit Geistern in Kontakt treten. Diese Geister seien sehr weise, mitfühlend und könnten uns Menschen helfen, gewisse Probleme im Leben zu lösen.
Durch schwere Zeiten zum Schamanismus
Schon seit ihrer Kindheit glauben die beiden daran, dass es noch andere, mitfühlende Wesen gibt, die nicht auf dieser Welt weilen. Bei Roman Steiner fing das in einer schwierigen Zeit in der Kindheit an. Sein Vater war schwer krank.
«Ich habe schon als Kind andere Kräfte wahrgenommen, weil ich sie auch gebraucht habe», sagt er. «Ich wurde von den Geistern in den Schlaf gesungen.» Nach diesen Erfahrungen fing Roman Steiner an, nach Antworten zu suchen. Die Suche brachte ihn zum Schamanismus.
Damit ist er nicht allein: Heute gibt es in der Schweiz viele verschiedene Angebote an Ritualen, die dem Schamanismus zugeordnet werden. Das können Zeremonien sein, bei denen man die Verbindung zur Natur sucht. Oder Reinigungsrituale in Schwitzhütten oder Rituale für wichtige Übergänge im Leben.
Schamanismus ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche Rituale und Praktiken. Wobei sich die meisten auf eine indigene Praxis beziehen: von Völkern aus Süd- oder Nordamerika, Ozeanien, Sibirien, aber auch Afrika.
Verwestlichter Schamanismus
In der Schweiz besteht das Angebot meist aus stark «verwestlichten» Praktiken, also Dienstleistungen, die sich am Markt ausrichten: Die Rituale werden vereinfacht und häufig vermischt. Dabei würden oft lokale Eigenheiten verloren gehen, meint Piotr Sobkowiak, Religionswissenschaftler der Universität Bern.
Eine wichtige Figur im westlichen Schamanismus ist der US-Amerikaner Michael Harner. Dieser glaubte daran, dass es einen Kern aller schamanischen Praktiken auf der ganzen Welt gebe. Er versuchte daraufhin, diesen Kern herauszuschälen und Menschen im Westen den Zugang zu den Praktiken zu ermöglichen.
«Die Intention war, dieses alte Wissen wieder verfügbar zu machen für Kulturen, die es verloren haben», erklärt Roman Steiner, der selbst diesem «Core-Schamanismus» von Harner folgt. Harner tat dies mit Erfolg: Er trug wesentlich dazu bei, dass schamanische Praktiken im Westen in den 1970er-Jahren einen regelrechten Boom erlebten, der teilweise bis heute anhält.
Kritik aus der Wissenschaft
Michael Harner musste jedoch auch Kritik einstecken, insbesondere von wissenschaftlicher Seite: Seine Idee sei zu einfach und übersehe die lokalen Eigenheiten der verschiedenen Praktiken. «Der Core-Schamanismus verfestigt alte Klischees vom Schamanen mit der Trommel, der in die Geisterwelt reist», meint auch Schamanismus-Experte Piotr Sobkowiak.
Für Mar Wieland und Roman Steiner aber steckt genau in dieser Vereinfachung der Rituale der Respekt für die indigenen Kulturen. Dass sie die Rituale nicht genau so übernehmen, wie sie in indigenen Kulturen durchgeführt werden, sei im Core-Schamanismus volle Absicht: «Wenn ich in der Schweiz geboren bin, weshalb sollte ich ein Ritual kopieren, das vielleicht aus dem Amazonas-Gebiet kommt? Das wäre absurd», meint Mar Wieland. Sie würde ein Ritual nur dann genau übernehmen, wenn sie es von einem indigenen Volk selbst gelernt und auch die explizite Erlaubnis dafür hätte.
Schamanismus ist nicht gleich Schamanismus
Mar Wieland und Roman Steiner würden sich selbst auch nie als Schamanin oder Schamane bezeichnen. «Es wäre anmassend, wenn wir uns einfach selbst diesen Titel geben würden», betont Mar Wieland. Denn in indigenen Kulturen werde dieser Titel von der Gemeinschaft an einen Menschen verliehen, der besonderes Wissen oder bestimmte Kräfte besitze.
Religionswissenschaftler Piotr Sobkowiak beobachtet, dass dieses Bewusstsein in der Schweiz durchaus gross sei. Es gäbe nur wenige, die sich diesen Titel selbst geben.
Trotzdem kritisiert er: «Obwohl sie sich den Titel selbst nicht geben, versuchen sie trotzdem alles so zu wiederholen, wie es die tatsächlichen Schamanen oder Schamaninnen in lokalen Kontexten machen». Im Westen würden so die Rollen stark vermischt. «In indigenen Kontexten arbeitet nur der Schamane mit den Geistern. Die normalen Leute haben auch ein wenig Angst vor ihnen.»
Schamanen sind keine Psychotherapeuten
In der Wissenschaft spricht man heute oft von «Neo-Schamanismus». Mit diesem Begriff möchte man westliche Praktiken zusammenfassen, um diese klar von indigenen Praktiken zu unterscheiden. Westliche Denkmuster seien in solche Praktiken eingeflossen, betont Piotr Sobkowiak: «Die Anklage ist, dass solche Praktiken einen Ersatz für professionelle Hilfe sein wollen.»
Mit anderen Worten: Menschen in schwierigen Lebenssituationen würden Hilfe holen bei schamanisch Praktizierenden, anstatt bei professionell ausgebildeten Psychologinnen. «Dass Schamanismus irgendeine psychotherapeutische Wirkung haben soll, finde ich in lokalen Kontexten nicht. Schamanen sind keine Psychotherapeuten», kritisiert er.
Mar Wieland und Roman Steiner sind sich der Kritik an ihrer schamanischen Praxis durchaus bewusst. Trotzdem sind sie überzeugt, dass sie den indigenen Kulturen mit viel Respekt gegenübertreten. Man sieht ihnen ihre Begeisterung und Leidenschaft förmlich an. Insbesondere dann, wenn sie sich in Trance trommeln.