«Die Schweiz ist für mich schwarz, grau, pink, grün, blau, violett, rot, orange und gelb.» Claude Mattenberger ist Künstler und zeichnet seine Heimat in bunten Farben.
Der 53-jährige Berner hockt im Berner Zentrum Paul Klee am Boden einer mongolischen Jurte und übergibt das Wort an Samira Guggisberg. Die junge Frau ist pragmatischer: «Die Schweiz ist eigentlich weiss oder rot. Weil die Flagge so aussieht. So oder so.»
SpezialistInnen in Sachen Schweiz
Es ist Redaktionskonferenz des Magazins «Ohrenkuss» und die findet ausnahmsweise in Bern statt. Die Redaktion aus Bonn braucht für ihr nächstes Heft Unterstützung von Schweizern, denn das Thema der Ausgabe ist «Schweiz».
Nur Menschen mit Downsyndrom schreiben für «Ohrenkuss». Dass Claude Mattenberger und Samira Guggisberg Schweizer mit Downsyndrom sind, macht sie zu den Experten, die die Redaktion sucht.
Austausch auf Augenhöhe
Dass die Redaktion sich im Zentrum Paul Klee trifft, ist kein Zufall. Hier findet die Ausstellung «Touchdown» statt, über das Leben mit Downsyndrom. Die Heftmacher von «Ohrenkuss» haben die Ausstellung mitkonzipiert.
Ein Hinweisschild am Eingang zur Jurte klärt die Besucher der Ausstellung auf: «Diese Jurte hat viel mit der Mongolei zu tun. Das Downsyndrom hat nichts mit der Mongolei zu tun.»
Die Ausstellung will Vorurteile über das Downsyndrom überwinden und Begegnungen auf Augenhöhe schaffen.
«Wir brauchen jemanden, der sagt: Ich liebe dieses Land!»
Vier Personen mit Downsyndrom haben sich in der Jurte versammelt, um über ihre Heimat nachzudenken. Katja de Bragança, Gründerin des Magazins, legt Wert auf Inhalt.
«Wir brauchen jemanden, der sagt: Ich liebe dieses Land! Und dann den Text dazu schreibt. Das ist eine Qualität, die können wir in Deutschland selbstverständlich nicht produzieren über die Schweiz.»
Sie und Anne Leichtfuss, die Redaktionsassistentin, sind die einzigen Personen bei «Ohrenkuss», die nicht das Downsyndrom haben.
Von Schönschreibern und Aktivistinnen
«Ohrenkuss» möchte keine Informationsbroschüre zu Trisomie 21 sein, im Gegenteil. «Mütter», «Mode», «Superkräfte» – das sind die Themen, die die Redaktion beschäftigen.
Einige «Ohrenkuss»-StammredaktorInnen schreiben schon jahrelang für das Heft, erzählt die Herausgeberin Katja de Bragança. «Die werden immer stimmgewaltiger und geübter.»
Die AutorInnen nutzen «Ohrenkuss» auch als Sprachrohr für ihre Anliegen: Pränataldiagnostik, Recht auf Leben, Frieden.
Lehrmeinungen durchbrechen
Ihre Texte verfassen die Mitarbeitenden eigenständig. Das ist bei «Ohrenkuss» selbstverständlich.
Vor 20 Jahren, als das Heft gegründet wurde, galt so etwas als undenkbar. «Damals war die Lehrmeinung: Menschen mit Downsyndrom können nicht lesen und schreiben lernen», erinnert sich Anne Leichtfuss.
Hochglanz statt Kachelwand
Die Darstellung von Menschen mit Trisomie 21 sei früher oft defizitorientiert gewesen. «Die Leute trugen Feinripp und waren vor einer fiesen Kachelwand fotografiert, ganz grauenvoll.»
Der «Ohrenkuss» ist ein Hochglanz-Magazin, das mit Profifotografen zusammenarbeitet. Anne Leichtfuss ist überzeugt: «Ohrenkuss» hat die Bildsprache verändert, in der die Welt auf Menschen mit Downsyndrom schaut.
Qualität in Inhalt und Form
Im Zentrum Paul Klee diktiert Pia Heim ihren Text: «Meine Farben für die Schweiz sind weiss, grün, grau für die Berge. Schnee.»
Katja de Bragança möchte mehr Details hören. Welche Kantone gibt es in der Schweiz? Wohin muss man reisen? Was darf man nicht verpassen?
«Die schönste Stadt der Schweiz ist Zürich. Weil es dort verschiedene Sachen aus dem Fernsehen gibt, die man ansehen kann», sagt Pia Heim.
«Schweizer Musik und Berner Marsch», fällt Claude Mattenberger ein. «Das ist meine Heimat. Das macht mich glücklich».
Sprache, auf den Punkt gebracht
Die Berge, der Schnee, die Schoggi, das Fondue: Die Antworten der vier Nachwuchsredaktoren sind naheliegend.
Und doch offenbart sich in ihnen immer wieder eine ganz eigene Poetik. «Menschen mit Downsyndrom können ihre Umwelt anders abstrahieren.» Es ist eine Sprache, die Katja de Bragança fasziniert: «Oft unerwartet, mit einem ganz speziellen Zauber und auf den Punkt.»
«Schreiben ist auch eine Heimat»
Katja de Bragança ist zufrieden mit dem Resultat der Sitzung. Die neuen Redaktore haben Lust auf mehr.
«Schreiben ist auch eine Heimat», sagt Pia Heim zum Abschied.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 6.2.2018, 17.20 Uhr