Die Schweiz galt lange als Land von Hirten und Bauern – ein Bild, das trügt: Sie ist seit Jahrhunderten auch eine Handelsmacht. Basler Missionare, Neuenburger Handelsgesellschaften und Glarner Unternehmer reisten bereits im 18. Jahrhundert übers Meer nach Asien, Afrika und Amerika.
Solche Handelstätigkeiten in Übersee hat die Schweiz zu einem der wohlhabendsten Staaten gemacht, sagt die Historikerin Andrea Franc.
SRF: Seit der frühen Neuzeit machten Kaufleute aus dem heutigen Gebiet der Schweiz in Europa und auch auf anderen Kontinenten Geschäfte und gründeten Unternehmen. Wie kam es dazu?
Andrea Franc: Ein wichtiger Ausgangspunkt für die frühe wirtschaftliche Aktivität war die verlorene Schlacht von Marignano von 1515. Die Eidgenossen schlossen danach mit dem französischen König ein Friedensabkommen.
Mit diesem «ewigen Frieden» erreichte Frankreich, dass es in der Eidgenossenschaft Söldner ausheben durfte. Erlaubt war den Eidgenossen dafür, in Frankreich ihre Produkte zu verkaufen.
Umgekehrt kamen damals ausländische Kaufleute ins Land: meist protestantische Flüchtlinge, die in katholischen Gebieten in Europa verfolgt wurden, etwa die Hugenotten aus Frankreich. Was brachten diese wirtschaftlich mit?
Wie alle Flüchtlinge konnten die Hugenotten lediglich ihr Wissen und ihre Netzwerke mitbringen. Ihre Exilgemeinden waren in ganz Europa und in Übersee verstreut, was den späteren Handelsbeziehungen diente. Sie brachten zudem viel Finanzwissen mit und spielten damit beim Aufbau von Banken eine wichtige Rolle.
Im 18. Jahrhundert zog es die Eidgenossen übers Meer und über Europa hinaus. Was suchten sie in Übersee?
Sie wollten ihre Geschäfte früh in fernen Märkten diversifizieren, um nicht von einzelnen europäischen Mächten abhängig zu bleiben. Da waren zum Beispiel die Gebrüder Merian aus Basel: Sie investierten in Anteile von verschiedenen Überseeexpeditionen mit Sklavenschiffen.
Sie sprechen den transatlantischen Dreieckshandel an: Waren aus Europa wurden nach Afrika verschifft und dort gegen Sklaven eingetauscht. Diese wurden nach Amerika gebracht, und von dort fuhren die Schiffe schliesslich mit Rohstoffen wieder nach Europa zurück. Wie stark waren die Eidgenossen an diesem Handel beteiligt?
Dazu gibt es keine spezifischen Daten. Die Forschung geht aber davon aus, dass das Ausmass dieses Handels mit jenem von anderen europäischen Ländern vergleichbar ist. Dabei führen britische Forschende nur einen kleinen Teil des Wirtschaftsaufschwungs während der Industrialisierung auf den Sklavenhandel zurück. Technische Innovationen sind dafür viel wichtiger gewesen.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand der Schweizerische Handels- und Industrieverein, die heutige Economiesuisse. Welche Bedeutung hatte dieser Verein im Überseegeschäft?
Kaufleute und Unternehmer, die in kantonalen Handelskollegien organisiert waren, schlossen sich 1870 auf nationaler Ebene zusammen. Ihr Ziel war ein leistungsfähiger Bundesstaat, der Infrastruktur bereitstellte. Denn sie brauchten für ihre weltweite Handelstätigkeit ein ausgebautes Strassen- und Eisenbahnnetz, einheitliche Zollbestimmungen und internationale Abkommen.
Die Schweizer Wirtschaftselite rief damals nach dem Staat?
Ja, das kann man sich heute fast nicht mehr vorstellen. Die Forderungen des Schweizerischen Handels- und Industrievereins trugen massgeblich zum Ausbau des neuen Bundesstaates bei. Das Überseegeschäft profitierte davon. Vor dem Ersten Weltkrieg zählte die Schweiz zum Beispiel zehnmal mehr multinationale Firmen als die Niederlande.
Die Schweiz war also jahrhundertelang erfolgreich im Überseegeschäft tätig, ohne selbst Kolonien zu haben. War das denn ein Vorteil?
Ja, denn Kolonien zu besitzen kann für einen Staat sehr teuer werden. Der Wohlstand, der durch den Überseehandel entstand, hing denn auch nicht so sehr vom Besitz von Kolonien ab. Entscheidend war, ob das betreffende Überseegebiet Rohstoffe hatte, die sich industriell verwerten liessen.
Das Gespräch führte Sabine Bitter.