Als der Kosovo-Krieg Ende Februar 1998 eskalierte, begann eine beispiellose Fluchtbewegung in die Schweiz. Innert zwei Jahre stellten über 50'000 Menschen aus dem Kosovo Asyl. Drei Betroffene erinnern sich.
Als Kosovo-Albanerin in der Schweiz
«Es war ein unglaubliches Ohnmachtsgefühl, am Fernseher die grausamen Bilder des Kriegs in der Heimat mitzuverfolgen», erinnert sich Basrie Sakiri-Murati. Sie gehört zur grossen kosovo-albanischen Diaspora, die schon vor Kriegsausbruch in der Schweiz lebte. Schätzungen sprechen von über 150'000 Menschen.
Sakiri-Murati ist 1989 geflüchtet, weil sie im Kosovo für ihre politischen Aktivitäten verfolgt wurde. Als sie in die Schweiz kam, war sie 18 Jahre alt. Beim Kriegsausbruch neun Jahre später war sie bereits voll integriert. Sie hatte eine feste Arbeitsstelle und eine Familie gegründet.
Den Kontakt zur Familie im Kosovo habe sie schon vorher nur schwer halten können, erzählt Sakiri-Murati. Durch den Krieg war sie ganz auf Nachrichten aus Radio und Fernsehen angewiesen: «Oft habe ich schlaflose Nächte vor dem Fernseher verbracht und mir schlimme Szenarien überlegt.» Das Schlimmstmögliche wurde Realität: Ihre Eltern kamen im Krieg ums Leben.
Diese Solidarität in der Schweiz werde ich nie vergessen.
«Ich weiss nicht, wie ich all das überstanden habe. Ich musste funktionieren, als berufstätige Mutter von zwei kleinen Kindern», sagt sie. Geholfen haben ihre Freunde in der Schweiz: «Bekannte sind ungefragt vorbeigekommen, um mich zu umarmen. Meine Vorgesetzte hat mich voll unterstützt. Diese Solidarität in der Schweiz werde ich nie vergessen.»
Sie erinnert sich aber auch an ablehnende Reaktionen gegenüber den Flüchtlingen: «Ich musste zum Beispiel den Kommentar hören, dass sich die Leute im Balkan kaputtmachten, und die Schweiz sie nun ernähren müsse.»
Manche Leute konnten nicht nachvollziehen, warum die Geflüchteten über die Ankunft keine grosse Freude zeigten.
Sakiri-Murati meint: «Manche Leute konnten nicht nachvollziehen, warum die Geflüchteten über die Ankunft keine grosse Freude zeigten. Im Gegenteil, bei vielen sprachen die Tränen über Angehörige, die zurückgeblieben, verschwunden oder gestorben sind.» Zwischen den Flüchtlingen und der Schweizer Bevölkerung habe das zu Missverständnissen geführt.
Am 10. Juni 1999 ging der Krieg zu Ende. Nur ein paar Wochen später besuchte Sakiri-Murati den Kosovo. Es war das erste Mal seit ihrer Flucht zehn Jahre zuvor. Eine definitive Rückkehr war für sie kein Thema mehr. Zu verankert war sie in der Schweiz. Und zu unvorstellbar war ein Neuanfang im zerstörten Kosovo.
Heute ist Basrie Sakiri-Murati 51 Jahre alt und lebt in Bern. Sie arbeitet im Pflegedienst und als Übersetzerin. 2019 ist ihr Buch «Bleibende Spuren» erschienen, welches von ihrer Flucht aus dem Kosovo erzählt.
Als «Gesicht» der Schweizer Asylpolitik
«Es war klar, dass bei einer Eskalation in Kosovo viele Flüchtlinge die Schweiz anstreben werden», sagt Jean-Daniel Gerber. Er war seit Herbst 1997 Direktor des damaligen Bundesamts für Flüchtlinge (BFF): «Wie hart die serbische Führung vorgehen und wie gross die Fluchtbewegung ausfallen würde, war jedoch nicht absehbar.»
Die Realität war: In den Jahren 1998 und 1999 hat die Schweiz im Verhältnis zur Bevölkerungsgrösse weltweit am meisten kosovarische Flüchtlinge aufgenommen, über 50'000 Menschen. Zwar gab es Asylunterkünfte, die für solche Fälle reserviert und rasch in Betrieb waren. Doch angesichts der grossen Zahl an Menschen waren die Strukturen überlastet.
Bis auf Einzelfälle haben wir es geschafft, dass niemand draussen übernachten musste.
Die Gemeinden mussten in kürzester Zeit leere Hotels, Zivilschutzanlagen oder Turnhallen frei machen. «Es war eine grosse Herausforderung. Aber bis auf Einzelfälle haben wir es geschafft, dass niemand draussen übernachten musste», sagt Gerber. Um die Betreuung der Flüchtlinge sicherzustellen, setzte der Bundesrat ab Herbst die Armee ein: WK-Soldaten leisteten Dienst in Asylunterkünften.
Als Herausforderung für Gerber kam hinzu, dass eine hitzige Asyldebatte tobte. Im Sommer 1998 traten verschärfte Massnahmen in Kraft. Das Referendum und der folgende Abstimmungskampf machten das Asylwesen zum Dauerthema. Weiter angeheizt wurde die Debatte durch eine Asyl-Initiative, welche die SVP Anfang 1999 lancierte.
«Es war eine unglaublich aufgeladene Atmosphäre, die auch im Kontakt mit der Bevölkerung spürbar war», erinnert sich Gerber. Das gipfelte im Herbst 1998 in einem Brandanschlag auf eine geplante Unterkunft in Bronschhofen SG. Gerber selbst hat unzählige Drohungen erhalten, wurde unter Polizeischutz gestellt.
Die ablehnende Haltung hat sich aber in kurzer Zeit gewandelt, sagt Gerber: «Die Leute merkten: Hier kommen Familien, nicht junge Männer auf Arbeitssuche. Es sind Menschen, die in grösster Not sind.» Im Frühling 1999 hat der Bundesrat für alle Flüchtlinge aus Kosovo die kollektive Aufnahme beschlossen. Sie durften vorläufig in der Schweiz bleiben.
Wir wussten: Je länger die Menschen bleiben, desto schwieriger wird die Rückkehr.
Für Gerber begann zeitgleich eine andere Arbeit: die Planung der Rückkehr. «Wir wussten, dass die Flüchtlinge zurückwollten. Aber wir wussten auch: Je länger die Menschen in der Schweiz bleiben, desto schwieriger wird die Rückkehr», so der ehemalige BFF-Chef.
Daher stoppte der Bundesrat die kollektive Aufnahme kurz nach Kriegsende. Die Menschen mussten zurück. Hinzu kamen Anreize: Wer noch im Jahr 1999 zurückkehrte, bekam einen Betrag von 2000 Franken und Materialhilfe für den Wiederaufbau. So kehrten 80 Prozent der Flüchtlinge in den Kosovo zurück.
Jean-Daniel Gerber blieb bis 2003 Chef des Bundesamts für Flüchtlinge. Danach wurde er Direktor des Staatssekretariats für Wirtschaft. Heute ist er 76 Jahre alt und pensioniert.
Als Kriegsflüchtling im Asylwesen
«Ich wollte in die Schweiz, weil Verwandte viel Gutes erzählt hatten», sagt Selim Ramosaj. Als der Krieg ausbrach, war er 21 Jahre alt und Student in Pristina. Das Studium musste er abbrechen, weil er zum Dienst für die UÇK, die Befreiungsarmee des Kosovo, antreten musste.
Angesichts der Übermacht der serbischen Armee entschied sich Ramosaj im Herbst 1998 zur Flucht. Sie dauerte mehrere Wochen und führte zu Fuss bis Albanien, mit dem Boot nach Italien und von dort in die Schweiz.
In der Schweiz erging es Ramosaj wie vielen Flüchtlingen: Es begann eine kleine Odyssee. Seine erste Station war ein Asylheim in Basel, dann wurde er nach Bern gebracht, später nach Neuenegg und zuletzt lebte er in Wiler bei Utzensdorf in einer Asylunterkunft.
«Am Anfang war es wirklich schwierig, weil ich die Sprache nicht kannte», erinnert er sich. Später hat er einen Deutschkurs gemacht. Das habe ihm sehr geholfen. Ramosaj hat nicht nur rasch Deutsch gelernt, er spricht es bis heute fast fliessend.
In der Schweiz habe ich gelernt, in Ruhe zu schlafen und in Frieden aufzuwachen.
Eine Herausforderung für Ramosaj blieb: «Ich durfte nicht arbeiten. Das war schlimm für mich. Zu Hause war alles kaputt. Ich hätte gerne hier etwas getan.» Um aktiv zu bleiben, hat Ramosaj für eine Zeitschrift des Roten Kreuzes gearbeitet – freiwillig und unentgeltlich.
Ramosaj spricht von dieser Zeit als der schönsten seiner Jugend: «Ich habe gelernt, was es bedeutet, in Freiheit zu leben, als Mensch respektiert zu werden, wie schön das Zusammenleben mit anderen Nationalitäten ist. Und in der Schweiz habe ich gelernt, in Ruhe zu schlafen und in Frieden aufzuwachen.» Er habe hier nur offene und freundliche Menschen getroffen.
Er wäre daher auch nach Kriegsende gerne geblieben. Allerdings zwangen ihn die Behörden im Oktober 2000 zur Ausreise. Diese Rückkehr in den Kosovo hat er als sehr schwierig in Erinnerung: «Ich stand vor den Trümmern unseres Hauses. Wir mussten aus dem Nichts alles wieder aufbauen.»
Heute denke ich an die Zeit in der Schweiz wie an einen Traum, der nicht in Erfüllung gegangen ist.
Heute ist Selim Ramosaj 46 Jahre alt. Er lebt mit seiner Familie in Deçan, eine Kleinstadt im Westen von Kosovo, arbeitet als Bankangestellter. Hätte er die Möglichkeit, würde er auch heute zurückkehren, sagt er. Vor allem, um seinen Kindern eine bessere Perspektive zu bieten.
Seine Flucht in die Schweiz ist nun fast 25 Jahre her. Zurück in der Schweiz war Ramosaj in dieser Zeit nur einmal, als er einen Cousin in Basel besuchte. Er sagt: «Heute denke ich an die Zeit in der Schweiz wie an einen Traum, der nicht in Erfüllung gegangen ist.»