1998, ein Stammtisch in einer Beiz in Bronschhofen, Kanton St. Gallen. Das Schweizer Fernsehen interviewt Bier trinkende Männer. An einem anderen Tisch im selben Restaurant sitzt eine Flüchtlingsfamilie aus dem Kosovo. Auf dem Balkan tobt damals seit fast sieben Jahren ein Krieg, die Menschen aus dem Kosovo sind auf der Flucht vor Gewalt und Vertreibung. Aber ein Mann am Stammtisch sagt in diesem Fernsehbeitrag: «Diese Leute da drüben sehen wirklich nicht so aus, als ob sie viel mitgemacht hätten. Das sieht man doch.»
Dieses Misstrauen war in der Zeit weit verbreitet. Die Empathie gegenüber Flüchtlingen vom Balkan nicht besonders gross. Der Krieg auf dem Balkan war zwar auch in den Schweizer Medien ein Thema, liess sich aber noch nicht so eng verfolgen wie der Konflikt in der Ukraine heute via soziale Medien. Zudem waren die Vorgänge, die Fronten auf dem Balkan komplexer, «Gut» und «Böse», Aggressor und Opfer schienen weniger eindeutig als heute im Ukraine-Krieg.
Komplexer Konflikt
Hamit Zeqiri, 1994 aus dem Kosovo in die Schweiz geflüchtet, sagt: «Es war wirklich nicht einfach, nachzuvollziehen, wo was genau geschah – angefangen von Slowenien über Kroatien und Bosnien bis in den Kosovo. Und irgendwann fanden die Leute: Ich verstehe das sowieso nicht.»
Zeqiri kam mit einem positiven Bild des Landes in die Schweiz. Die Schweiz war vielen Menschen in der damaligen jugoslawischen Provinz ein Begriff als Destination für die Arbeitsmigration. Die Schweiz hatte aus der Region ab den 1970er-Jahren fleissig Saisonniers rekrutiert für die Gastronomie oder die Baubranche.
Von der Schweiz enttäuscht
Zeqiri hatte die Schweiz sogar in der Schule durchgenommen und erwartete hier neben einer schönen Landschaft auch Menschen mit brennendem Interesse für Demokratie und Selbstbestimmung – und damit auch für die Kosovo-Frage. Zeqiri war im Kosovo politisch verfolgt, weil er sich in einer Jugendbewegung gegen die Diskriminierung durch die Serben eingesetzt hatte.
«Ich war darum fast euphorisch als ich hier ankam, hoffte auf Unterstützung und Verständnis. Aber ich musste feststellen: Unser Schicksal, unser Land, unser politischer Kampf interessierte hier fast niemanden.» Vielmehr sei er auf Ablehnung gestossen. Zum Beispiel bei der Wohnungssuche oder auch später, als er als angehender Sozialarbeiter einen Praktikumsplatz suchte.
Restriktivere Politik gegenüber Kriegsflüchtlingen
Als der Kosovo-Krieg in den Jahren 1998 und 1999 eskalierte, reagierte der Bundesrat zögerlicher als heute im Fall der Ukraine. Als erste Massnahme erliess der Bundesrat einen Ausschaffungsstopp für Kosovarinnen und Kosovarinnen, die schon in der Schweiz lebten, aber keine gültige Aufenthaltsbewilligung hatten.
Im Frühling 1999 verfügte er dann eine kollektive Aufnahme von Geflüchteten, allerdings war diese nicht mit dem Schutzstatus S zu vergleichen, den die Ukrainerinnen und Ukrainer heute bekommen. Im Gegensatz zu diesem Schutzstatus, den das Gesetz in den 1990er-Jahren gar noch nicht vorsah, durften die Flüchtlinge aus dem Kosovo erst nach drei Monaten arbeiten, durften sich erst nach einer Weile frei bewegen und auch das nur innerhalb der Schweiz.
Vor allem aber war die Dauer dieser kollektiven Aufnahme nicht definiert: Während der Schutzstatus S einen Mindestaufenthalt von einem Jahr garantiert, galt die kollektive Aufnahme für die Menschen aus dem Kosovo auf Zusehen hin. Bereits nach fünf Monaten wurde die kollektive Aufnahme gestoppt. Die Geflüchteten mussten in den kommenden Monaten die Schweiz verlassen.
Auf und Ab der «Willkommenskultur»
Dass die Geschichte der humanitären Schweiz in Bezug auf den Umgang mit Flüchtlingen keine kontinuierliche ist, zeigen die Forschungen von Francesca Falk. Die Historikerin an der Universität Bern bezeichnet den Begriff der «humanitären Tradition» als Topos, also als festen Begriff, der eher eine positive Wunschvorstellung beschreibt, denn eine Tatsache.
Geprägt hat diese Vorstellung eine Handlung des jungen Schweizer Bundesstaates während des Deutsch-Französischen Krieges, bei der das Rote Kreuz zu seinem ersten Grosseinsatz kam. Die Schweiz nahm die sogenannte Bourbaki-Armee auf, das waren fast 90'000 Soldaten – für ein Land mit damals erst rund 3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern eine grosse Zahl.
Der historische Tiefpunkt dieser humanitären Tradition stellt dagegen die Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg dar. 1942 stoppte die Schweiz die Aufnahme von Jüdinnen und Juden, Verfolgung aus Rassengründen galt nicht mehr als Asylgrund. Die Schweiz passte sich damit der Ideologie der Nationalsozialisten an und bis in die höchsten Kreise der Schweiz war Antisemitismus verbreitet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die Schweiz wegen dieser Flüchtlingspolitik in die Kritik, vorab von den Siegermächten. Eine breit angelegte Sammelaktion für die kriegsversehrten Nachbarn sollte dieses Image wieder aufpolieren. Zudem habe sich die Schweiz, so die Historikerin Francesca Falk, bei einer nächsten Gelegenheit sehr offenherzig gezeigt, 1956, als die Sowjetunion mit militärischen Mitteln in Ungarn einen Aufstand niederschlug: «Die ungarischen Flüchtlinge holte man sogar aktiv in die Schweiz. Die damalige Post, die PTT, stellte dafür 25 Postautos zur Verfügung», berichtet Falk. Das Bild der humanitären Schweiz stimmte wieder.
Die Tamilen und die Lederjacken
Wiederum schwieriger verlief die Integrationsgeschichte der Tamilinnen und Tamilen, die ab den 1980er-Jahren vor dem Bürgerkrieg und vor der Unterdrückung in ihrer Heimat Sri Lanka flüchteten.
Wohl aus Unkenntnis deren Schicksals und der politischen Situation in deren Heimat wurden sie in der Schweiz mit Skepsis empfangen. Auch gehörten sie zu den ersten Migrantinnen und Migranten aus einer völlig anderen Weltgegend, mit einer als fremd empfundenen Sprache und Kultur.
Den Tamilinnen und Tamilen begegneten viele im Land mit Vorurteilen und sie wurden mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Nur so war es möglich, dass sich eine gut gemeinte Geste des Schweizerischen Roten Kreuzes in der öffentlichen Wahrnehmung ins Gegenteil verkehrt wurde: «Das Hilfswerk hatte Lederjacken mit einem Produktionsfehler erhalten und diese an die geflüchteten Tamilinnen und Tamilen verteilt. Das Resultat war, dass alle sagten: ‹Die können nicht so arm sein, wenn sie sich sogar Lederjacken leisten können!›».
Begleitet von der Boulevardpresse sei so eine eigentliche Kampagne gegen diese Flüchtlinge entstanden, sagt die Historikerin Francesca Falk. Es kam sogar zu Gewalt: Bei mehreren Brandanschlägen auf Asylunterkünfte starben insgesamt vier Menschen.
Asylrecht stetig verschärft
Ob Geflüchtete in der Schweiz willkommen sind oder nicht, hängt also von verschiedenen Faktoren ab. Der Verpflichtung auf eine humanitäre Tradition stehen die jeweiligen aussen- und innenpolitischen Umstände gegenüber. Und es spielt für die Wahrnehmung einer bestimmten Flüchtlingsgruppe eine Rolle, woher sie kommt, wie bekannt die Konfliktsituation, vor der sie flieht, hierzulande ist und wie die Medien über die Lage dieser Menschen in ihrer Heimat berichten.
Tatsache ist, dass das Schweizer Asylrecht, im Einklang mit der gesamteuropäischen Entwicklung, in den letzten Jahrzehnten unter dem Strich verschärft worden ist. Ein Beispiel sind die Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, etwa die Ausschaffungshaft. Ein anderes Beispiel ist, dass bei Schweizer Botschaften im Ausland keine Asylgesuche mehr gestellt werden können. Ob die momentane Grosszügigkeit, die Solidaritätswelle gegenüber den Ukrainerinnen und Ukrainern mehr ist als einfach ein positives Beispiel für die humanitäre Tradition der Schweiz, lässt sich noch nicht beurteilen.
Ich bin überzeugt: Die Menschheit macht in diesen Fragen Fortschritte, bei allen Tiefpunkten, die es immer wieder gibt. Wir lernen aus den Fehlern, auch hier in der Schweiz.
Hamit Zeqiri, der Luzerner mit Wurzeln im Kosovo, der vor 28 Jahren von der Schweiz und den Schweizerinnen und Schweizern enttäuscht worden ist, ist unterdessen optimistisch: «Ich bin überzeugt: Die Menschheit macht in diesen Fragen Fortschritte, bei allen Tiefpunkten, die es immer wieder gibt. Wir lernen aus den Fehlern, auch hier in der Schweiz.»
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