Die Game-Branche boomt. Rund 180 Milliarden Dollar haben Unternehmen allein im letzten Jahr mit Computerspielen weltweit umgesetzt. Wer sind die kleinen Schweizer Player, die mit Ehrgeiz und Enthusiasmus versuchen, ein paar Krümel des grossen Kuchens abzukriegen? Drei Annäherungsversuche per Ferngespräch.
Sebastian Riedi – Gameglück und seine Grenzen
Schief angesehen hat ihn selten einer. Die Welt hat schon verrücktere Spiele gesehen als Sebastian Riedis «Sanatorium – A Mental Asylum Simulator». Aber ein Game, das den Alltag in einer psychiatrischen Anstalt der 1920er-Jahre nachspielen lässt? Normal ist das nicht.
Der junge Mann mit der Mütze konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als die interne Prüfungsstelle einer Schweizer Grossbank wissen wollte, ob er sich sicher sei, mit seiner Firma kein Geld waschen zu wollen. Hatten die vielleicht nicht alle Tassen im Tresor?
Riedis Bude trägt den Namen Zeitglas, und das ist zur Stunde mindestens halb voll. «Sanatorium» – das Spiel brachte dem Zweimannbetrieb diesen Sommer eine Einladung an die wichtige Gamescom nach Köln ein – steckt im Stadium des «Vertical Slice». Heisst: Der Look ist finalisiert, das Regelwerk formuliert und ein Publisher an Fertigstellung, Vertrieb und Verkauf interessiert.
Bis historisch interessierte Gamer als Hochstapler aber in der psychiatrischen Anstalt anheuern dürfen, um dort mit durchaus merkwürdigen Methoden Menschen zu behandeln, wird es allerdings mehr brauchen als den finalen Feinschliff: unter anderem eine Handvoll Mitarbeitende, einen Haufen historisch akkurater Krankenakten und zirka zwei Jahre Tunnelblick für das Zeitglas-Team.
Und für wen soll dieses Game sein, das einen kritischen Blick auf ein dunkles Kapitel Psychiatrie-Geschichte wirft? Er habe, sagt Riedi, keine Zielgruppe vor Augen gehabt. Die Vorab-Vermessung der momentanen Marktlage sei das Markenzeichen der Big Players, die sich nicht scheuen, auch mal ein fixfertiges Game zu killen.
Als kleiner Fisch mit Indie-Impetus sei man gefordert, anderes «an den Tisch zu bringen», wie Riedi sagt. Enthusiasmus, Experimentierfreude und den Ehrgeiz, die Grenzen dessen zu verschieben, das gemeinhin als «normal» gilt – und das auf allen möglichen Ebenen.
Man müsse nicht verrückt sein, um im Game-Geschäft Fuss fassen zu wollen, sagt Riedi. Es brauche Beharrlichkeit und das Bewusstsein, es zum Beispiel nicht mit dem Hyper-Realismus jener Games aufnehmen zu wollen, hinter denen eine finanzielle Power und Potenz stecke, von der sie bei Zeitglas nicht einmal träumen wollen.
Sein «Sanatorium-Simulator» setze sich aus 80 Prozent bestens bekannter Mechanik und 20 Prozent Nie-Gesehenem zusammen – in Fachkreisen eine vielversprechende Erfolgsformel für ein neues Game.
Könnte Riedi guten Gewissens ein Shooter-Game verantworten? Ein nickender Mützen-Mann. Seine moralischen Bedenken gälten eher reinen Marketing-Vehikeln. Mühe machten ihm die Zumutungen einer Boom-Branche, in der schlecht entlöhnte 72-Stunden-Wochen an der Tagesordnung sind, wenn ein Spiel für den Release ready gemacht wird.
Und dann sind da noch diese Games mit dem gut getarnten Glücksspielcharakter, die junge Menschen um ein Vermögen brächten. Stichwort: «Lootboxen» - diese virtuelle Schatzkisten, die mit echtem Geld erworben werden können, ohne dass man vorher genau weiss, was sich in ihnen verbirgt.
Spielen, sagt Sebastian Riedi, solle etwas für die Augen sein, für die Hände und für den Kopf. Spätestens, wenn es jemandem tatsächlich an den Kragen geht, hört für ihn der Spass auf.
Luzia Hüttenmoser – Kampf der Kontrolle
Wie soll man Heimweh haben nach etwas, das man nie gekannt hat? Man muss einer Luzia Hüttenmoser – Nasenring, Lippen-Piercing und komplex konfektionierte Fingernägel («French Manicure!») – nicht mit den grossen Gegenfragen kommen. Philosophisch wird sie von selbst, als sie den Knopf für das Mikrofon endlich findet.
Hüttenmoser geht es nicht erst seit ihrem Game «[I] doesn't exist» um ein Gefühl der Nostalgie. Neckischerweise hat sie damit in erster Linie junge Menschen im Blick, die das Genre «Text-Adventure» nicht aus den 1980er-Jahren kennen, als es auf der Höhe der Zeit war.
Eigentlich produziere sie ja sogar Meta-Nostalgie, schmunzelt die Game-Entwicklerin, ohne darüber die Modernisierung zu vergessen, die ein Game-Typ brauchte, in dem Dialog über allem stehe.
Wer gamet, will doch nicht lesen? Gemessen an den Text-Adventures der Gründerzeit bestehe «[I] doesn't exist» aus wenig Text, sagt Luiza Hüttenmoser und lacht so laut, dass es einen fast fürchtet, sie könnte die Katzen erschrecken, die sie in der Wohnung einer Freundin hütet. Sorge unbegründet: Die Tiere sind so scheu, dass Hüttenmoser sie nicht häufiger zu Gesicht bekommt als der hundskommune Gamer dieser Tage ein Text-Adventure.
«[I] doesn't exist» bietet Poesie der Marke Pixelgrafik zuzüglich Textzeilen, die sich auf den Screen schreiben. Über den Worten zeigt sich ein menschliches Unwesen, das sich aufmacht, eine wunderliche Waldwelt zu erkunden. Und immer wieder sind da diese Befehlstöne, denen netterweise die Ausrufezeichen fehlen. «Pflück diesen Pilz.» «Leg deine Hände an den Safe.» «Geh nach Westen.»
Luzia Hüttenmoser, im Osten der Schweiz aufgewachsen, hat früh sehr viel Zeit im Kellergeschoss eines Einfamilienhauses verbracht und ohne Argwohn der Eltern stundenlang zugeschaut, wie der grosse Bruder und die ältere Schwester auf einem Sofa versuchten, Tastatur und Maus eines grossen Macs unter Kontrolle zu bringen. «Sims» war damals der letzte Schrei.
Die Stunden auf der Coach versteht Hüttenmoser im Rückblick als lehrreiche Lektionen in Sachen «Games und Wirkungskraft». Sie sass wach und wohlbehütet zwischen den Geschwistern und machte sich im Geiste Notizen, bevor sie fehlerfrei schreiben konnte. Was löst welches Game aus? Worauf reagieren Bruder und Schwester – und wie?
Als es am Gymnasium einen Vortrag über ihren Traumberuf zu halten galt, scrollte sie erst eher lustlos eine lange Liste mit Jobs durch. Dann stolperte sie über das Wort «Game-Designerin» und wusste sofort: «Das ist es.»
An der Hochschule war die Hälfte der Studierenden weiblich. Die Grenzen haben sich zum Gleicheren verschoben.
Kontrolle ist bis heute das Schlüsselwort im Hause Hüttenmoser. Um nichts anderes gehe es auch in «[I] doesn't exist». Der Hintergedanke des Dialogspiels besteht darin, die selten hinterfragte Vereinbarung zwischen Spiel und Spielendem zu unterminieren. Eine Spielfigur macht immer schön brav, was ihr ein Spielender befiehlt? Denkste.
Eine Spielfigur, die sich der Kontrolle entzieht: Spätestens an dieser Stelle schlägt das Game in einen Bierernst des Lebens um, zu dem für Luzia Hüttenmoser auch das grosse Wort «Mental Health» gehört. «[I] doesn't exist» verhandle Themen wie Depression und Anxiety, sagt Hüttenmoser und fürchtet gerade, zu viel zu spoilern.
Wie, nun ja, gesund lebt es sich in der Gameswelt, in der mutmasslich immer noch die Männer das Sagen haben? Sie habe nie für ein grosses Studio gearbeitet, sagt Hüttenmoser, auf ihrer kleinen «Indie-Insel» sei das nicht der Fall. Schon an der Hochschule sei die Hälfte der Studierenden weiblich gewesen.
Die Grenzen hätten sich zum Guten, zum Gleicheren verschoben, sagt Hüttenmoser. Gleichwohl hat sie sich vorgenommen, ihre Firma als «Safe Space der Inklusion» zu verstehen und als Ort zu sichern, an dem man sich «narrativen Spielen mit moralischem Anspruch» verschreibe. Aber jetzt haben erst mal die Katzen Hunger.
Don Schmocker: Feedback und Verantwortung
Eine E-Mail war's. Don Schmocker erinnert sich, als hätte er sie erst gestern gelesen. Fanpost und Feedbacks finden immer wieder einen Weg in die Inbox des Zürcher Gamestudios Okomotive, das Schmocker mit Goran Saric gründete, manchmal sogar in Papierform. Aber dass jemand loswerden will, wie lebenswichtig «Far: Lone Sails» während der Pandemie gewesen sei? Puh.
Mehr als eine halbe Million Mal hat sich das, wie Don Schmocker es nennt, «meditative Erlebnis» verkauft, in dem der Spielende eine Kreuzung aus Schiff und Lokomotive durch die Weiten eines wasserlosen Meeres steuert. «Far: Lone Sails» habe ihm in schwierigen Zeiten Richtung und Rückenwind gegeben, beschloss der Fan seine Zeilen.
Seit März ist nun ein Sequel auf dem Markt. «Far: Changing Tides» erschliesst Neuland, ohne vom Erzählmuster des Vorgängers die Finger zu lassen. «Das meditative Erlebnis», wie Don Schmocker es nennt, ist eine Art Unterwassertrip von schier überirdischer Schönheit. Ein Gefährt wird zum Gefährten, gleichzeitig kommt die Spielspannung nicht zu kurz.
Was machen wir, damit wir mehr bieten als nur Unterhaltung?
Feedbacks freuen Schmocker immer – auch wenn sie nicht von geleisteter Überlebenshilfe künden, sondern leicht, locker und lustig daherkommen. Alle aber führen sie ihm vor Augen, dass er auf dem Führerstand von Okomotive auch eine Verantwortung trägt.
Natürlich entwickle er mit seinen neun Mitarbeitenden («Nicht alle arbeiten Vollzeit») nur Games. Aber was machen wir, fragt Schmocker, damit wir den Leuten mehr bieten als nur Unterhaltung? Wo liegt der Mehrwert? Was ist die Moral von einer Game-Geschicht’?
Don Schmocker hat keine Antwort parat. Sinnfragen scheinen ihm wichtig, aber es gibt auch sonst genug Arbeit. Es war schwierig genug, für den Nachfolger eines Überraschungserfolgs die richtige Mischung zu finden. Wie nahe bleiben wir am Original? Wie weit wollen wir die Community aus der Komfortzone locken? Was, wenn wir den eigenen Erwartungen nicht gerecht werden?
Schmockers Studio ist nach den ersten Erfolgen und Elogen noch lange nicht gross. Mit den Riesen der Industrie, den «Triple As», brauche man sich nicht zu messen. Aber auch in ihrer Zone wachsen die Ansprüche. Was gestern noch genügte, sei morgen vielleicht nicht einmal mehr Mittelmass.
Wie das gelinge? Man müsse anpassungsfähig zu bleiben, als Teil der Branche eines Landes, in dem man wenigstens Futterneid vergeblich suche.
Während des Studiums, so Schmocker, sei der Konkurrenzkampf grösser gewesen als jetzt, wo man sich im freien Markt zu behaupten habe. Die wechselseitige Hilfsbereitschaft mag möglich sein, weil auch in der Schweiz jedem Game-Entwickler die weite Welt offensteht.
Wohin wird die Reise von Okomotive gehen? Schmocker weiss nur, dass auch das nächste Projekt so viel Spass machen muss, dass sie alle Lust hätten, ein paar Jährchen dranzubleiben.