Es gibt Geschichten, die sind zu schön, um wahr zu sein. Aber Seemannsgarn ist es nicht, wenn Hans Beyeler erzählt, wie der Kapitän der «MS Lavaux» 1965 betrunken am Steuer einschlief, es in die falsche Richtung riss und das Frachtschiff bolzgerade aufs afrikanische Festland zu donnerte.
Oder wenn sein Freund Urs Werthmüller berichtet, wie er und ein paar andere europäische Seemänner in Abidjan an der Elfenbeinküste von erzürnten Frauen verfolgt wurden, weil sie diese ungefragt mit ihren Kameras abgelichtet hatten.
Im Dienst der Schweizer Hochseeschifffahrt
Der Seemannsclub an der Gerechtigkeitsgasse 15 ist eine Zeitkapsel, die einen in eine andere Ära befördert. Hier treffen sich immer am Freitagabend pensionierte Berner Seebären und Seebärinnen, um über die alten Zeiten zu berichten. Über die Jahre, als sie zur See aufbrachen, im Dienst der Schweizer Hochseeschifffahrt.
Das Kellerlokal ist an diesem Abend gut besetzt, es ist einer der ersten Abende an dem die alten Seefahrenden wegen der Pandemie wieder reminiszieren dürfen. Fränzu zerschneidet an der Bar Würste und gibt Rotwein und Flaschen eines Berner Traditionsbiers aus.
Gemeinschaftssinn steht hoch im Kurs, viele der ehemaligen Seemänner kennen sich seit Jahrzehnten. Im Seemannsclub Bern braucht wohl kaum jemand die sozialen Netzwerke unserer Gegenwart: aus dem Grund, weil die hier anwesenden Menschen selbst eines bilden.
Und das seit 1968, als der Berner Seemannsclub gegründet wurde. Auch die «Seemannsbraut» Regina Leuenberger kommt wegen dem Kollektiv hierher, und ja, weil sie hier noch ein wenig Freiheit schnuppern darf.
Freddy Quinn singt aus den Lautsprechern, Aloha-Souvenirs aus Hawaii zieren die Mauern, da hängen Postkarten und vergilbte Fotos aus allen sieben Kontinenten, abgewetzte Rettungsringe, ein Schild proklamiert «Alle Sünder willkommen!», da stehen Kapitänsminiaturen, altes Tauwerk und ein Schiffsmodell im Glaskasten. Tattoos zieren die wettergegerbten Körper, einer hat einen Ohrring in Ankerform, viele tragen eine Seemannsmütze.
Wegen der Liebe zur See
Wieso sind sie damals zur See gefahren, in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern, als sie noch jung waren?
Moudi Ryser tat es, weil ihn seine grosse Liebe «in die Wüste schickte». Walter Kneubühl, weil ihn ein heftiger Heuschnupfen plagte, von dem ihm die Seeluft Erleichterung versprach, Hans Beyeler wollte im Militär nicht weiter machen. Und alle taten es auch, weil sie die Welt sehen wollten.
Ein Zuckerschlecken war es nicht: Sie heuerten als Maschinist oder als Koch an, schufteten im Maschinenraum bei 90 Grad Celsius und versorgten die Crew mit Speis und Trank, während an Deck ein Hurrikan tobte.
Willkommen an Bord!
Im Seemannsclub fröhnt man der Matrosenromantik, aber da sind auch die Geschichten aus einer Zeit, als für viele junge Schweizer das Seefahren eine attraktive Option war. Daran erinnert ein Werbeplakat der einst blühenden Schweizer Hochseeschiffahrt, die in den Sechzigern junge Berufsleute aus Technik, Handwerk und Gastgewerbe «an Bord willkommen» hiess.
Tempi passati. Die grossen Schweizer Reedereien wie Suisse-Atlantique sind seit Jahren in Schieflage. Niemand heuert mehr junge Fachleute aus der Schweiz an, die Löhne sind zu tief und Personal braucht es immer weniger, weil die Schiffe durchautomatisiert sind.
Der Berner Seemannsclub erinnert an eine Zeit, die nie mehr zurückkommen wird. Beatrice Trösch, die Präsidentin des Clubs weiss, dass ihr Verein in ein paar Jahren die Segel streichen wird, zumal auch die Mitglieder langsam aussterben.
Aber wer heute noch den Geist dieser verlorenen Zeit atmen will, kann das weiterhin tun: Der Seemannsclub Bern öffnet mindestens jeden zweiten Freitagabend auch für die Öffentlichkeit seine Kellertüre.