Wer den Strand ohne grosse CO2-Emissionen geniessen möchte, findet das Meer vor der Haustür. Strandbars gibt es mittlerweile in fast jeder Stadt. Gastrobetriebe lassen Sand liefern, stellen Sonnenschirme, Liegestühle und Lounge-Möbel auf, bringen Lichterketten an.
Lautsprecher verbreiten entspannte Musik, und die Speise- und Getränkekarte fällt gegenüber den Inspirationsquellen an fernen Küsten nicht ab. Frischluft und Blick auf See oder Fluss.
Eine Oase am Basler Hafen
Das «Nordpol» in Luzern, «Triebguet» in Baden, «Summer Now» in Nidau, «Uferlos» in Stein am Rhein und so weiter: Das Meeresferiengefühl ist fast überall nah. Auch im Basler Dreiländereck.
Hier betreibt Urs Poživil, Gastrounternehmer mit 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, seit fünf Jahren die «Sandoase». Zwischen Rhein und Hafenbecken I liegt sie, maritimer geht es im Binnenland nirgends.
Das Gefühl von Weite und Meer
Frachtschiffe schieben sich vorbei, jenseits des Flusses liegt Huningue (F), jenseits der Hafeneinfahrt Weil am Rhein (D). Mit Urs sind wir gleich per Du. Er sagt: «Am Strand will man nicht gesiezt werden, sondern gute Stimmung haben.»
Das Strandgefühl ziehe die Leute an, begründet Poživil das Konzept der «Sandoase». Alle lieben Urlaub, alle seien gerne am Meer. Und: «Der Rhein ist das Tor zu den Weltmeeren.»
Viele Gäste blieben stundenlang, um das Strandfeeling einzusaugen, sagt er. «Man kann das Wasser beobachten und die Schiffe, die in den Hafen einfahren. Wunderschön.»
Zweihundert Meter nebenan beladen Kräne Schiffe mit Schrott. Die «Sandoase», eine Illusionsfabrik? «Ein gutes Wort», stimmt Urs zu, «das ist das Schöne, dass wir hier diese zwei Welten so nah aufeinander haben, das Industrielle und das Paradies.»
Urs Poživil kommt erneut ins Schwärmen: der geschäftige Hafen, der Rhein als Weg in die Nordsee – und mittendrin seine «Sandoase».
Und wie sieht es mit dem echten Meer aus?
Geraten ob so viel Strand in der Nähe die Reisen ans echte Meer ausser Mode? «Da stellt sich die Frage nicht, ob das in ist. Man macht das einfach gerne und vermisst es, wenn man ein, zwei Jahre nicht am Meer war», sagt Nathalie Dové, Inhaberin eines Reisebüros in Burgdorf. «Für mich bedeutet das Meer Freiheit, Horizonterweiterung. Weil ich in Australien aufgewachsen bin, sind die Gerüche für mich Kindheitserinnerungen.»
Nathalie Dové liebt es, im Meer zu schwimmen und zu tauchen. Sie geht spazieren, geniesst die Ruhe und lauscht den Wellen und den Vögeln.
Seit 30 Jahren verkauft Nathalie Dové Reisen, sie gehört dem Vorstand des Schweizer Reiseverbands an, des Branchenverbands der Reisebüros. Reisen ans Meer seien für die Branche wichtig, auch wenn keine Zahlen vorliegen, wie viele Leute aus der Schweiz ans grosse Wasser fahren.
Wegen Corona sind Dovés Mitarbeiterinnen zurzeit in Kurzarbeit. Der Umsatz ist auf 20 Prozent eines Normaljahres geschrumpft. Mit einem Umschwung rechnet die Reisebüroinhaberin nicht vor Ende Jahr.
Über die Hälfte des Umsatzes erwirtschaftet ihr Büro mit Reisen ans Meer. «Die Kundinnen und Kunden wollen eine Luftveränderung. Sie lieben es, in einem anderen Land zu sein, die Gerüche, das Salzwasser, den Sand zwischen den Zehen zu spüren, das Plätschern der Wellen zu hören. Das Meer wirkt beruhigend.»
Von Entschleunigung und Entspannung spricht Nathalie Dové. Besonders gefragt sei zurzeit das Mittelmeer, auch wegen der Unwägbarkeiten der Pandemie. Über Fernreisen schwebt weiterhin das Corona-Fragezeichen.
Mexiko, die Dominikanische Republik und Costa Rica seien gleichwohl in Mode. All-inclusive-Hotels seien heute weniger gefragt, sagt sie. «Man kommt zurück dazu, Land und Leute kennenlernen und das Hotel verlassen zu wollen. Ein paar Tage am Strand dürfen es sein. Die Leute wollen aber auch Ausflüge machen, vielleicht eine Mietwagenrundreise.»
Wichtig sei die gute Erreichbarkeit einer Destination, direkte Flüge seien bei ihrer Kundschaft beliebt. Reisende aus der Schweiz legten grossen Wert auf die Sauberkeit des Hotels und auf Komfort.
Die guten Seiten des Tourismus
Nathalie Dové berücksichtigt mit Vorliebe Hotels mit Nachhaltigkeitszertifikaten. Aber natürlich entscheidet die Kundschaft.
Ökologische Probleme beeinträchtigen das Reisen: Plastik und andere Abfälle im Meer, die Algenplage, die Übernutzung von Küstenabschnitten.
Die Reisebranche achte darauf, Destinationen mit sauberen Stränden und unbedenklichem Wasser anzubieten, sagt Nathalie Dové. Der Tourismus könne dem Umweltschutz sogar förderlich sein: «Wo es Hotels gibt, werden die Strände gesäubert. An Destinationen wie den Malediven bekommen im Flugzeug alle ein Plastiksäckchen und werden aufgefordert, ihren Abfall wieder mitzunehmen.»
Ohne Tourismus würde die Bevölkerung mancher Länder vielleicht gar nicht darauf hingewiesen, was zu tun sei, sagt die Reisebüroinhaberin: «Wenn man seine Hotels verkaufen will, muss man einen gewissen Standard bieten.»
Unbestritten ist, dass Flugreisen viel CO2 produzieren – und dass die niedrigen Ticketpreise ökologische Folgen mit sich ziehen.
Nathalie Dové versteht nicht, warum sich die Fluggesellschaften einzig über den Preis konkurrenzieren und nicht beispielsweise über den Service.
Die Lust nach Meer ist neu
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg reisten mehr Menschen ans Meer, sagt Fabian Weber, Professor am Institut für Tourismus und Mobilität an der Hochschule Luzern. Mit dem Aufschwung der späten 1950er- und vor allem der 1960er-Jahre konnten sich allmählich auch breitere Schichten den Strandurlaub leisten, vor allem am Mittelmeer.
Als ab den 1970er-Jahren die Flugpreise fielen, kamen überseeische Reiseziele dazu. Tunesien, die Kanarischen Inseln und Sri Lanka waren erste exotischere Destinationen, sagt Weber.
Der Tourismuswissenschaftler weiss, weshalb es Leute ans Meer zieht: «Natur und Landschaft sind ein wichtiges Motiv. Entspannung und Erholung stehen ebenfalls ganz oben. Badeferien vereinen diese Aspekte. Es ist wohl in keiner Reiseart so stark legitimiert, nichts zu tun und sich einfach hinzulegen.»
Der dünne Firnis des ökologischen Bewusstseins
Kann man Dolcefarniente geniessen in einer Umgebung, die oft strapaziert ist durch ökologische Probleme, teils durch den Massentourismus selbst verursacht? «Wegen der Klimadiskussionen ist die Sensibilisierung sicher gestiegen», stellt Fabian Weber fest. «Vielleicht überlegt man sich zweimal, ob eine so weite Reise nötig ist und welches Verkehrsmittel man wählt.»
Dass etliche Ferienregionen sichtbare ökologische Probleme hätten, nähmen die Gäste wahr. Manche Ferienorte werden deswegen an Anziehungskraft verlieren.
Weber nennt als Faktoren «den Druck des Massentourismus auf die Umwelt, mangelnde Infrastruktur, fehlende Kläranlagen». Er erinnert daran, dass der Klimawandel den Meeresspiegel ansteigen lässt, «die Küste erodiert, Korallenriffe sind gefährdet, Wasserknappheit, Hitze an den Feriendestinationen»
Im Coronajahr 2020 war es kaum ein Problem, auf Fernreisen zu verzichten. «Nichtsdestotrotz wird wieder gereist werden, wenn es möglich ist. Nachhaltigkeitsthemen werden bloss für einen kleinen Teil der Gäste bei der Buchung den Ausschlag geben.»
Auf die Zukunft angesprochen, zitiert Fabian Weber einen Satz von Hans Magnus Enzensberger aus den späten 1950er-Jahren: «Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet.»
Übernutzung der Natur
Jon Florin leitet «fairunterwegs», eine Organisation, die sich der Nachhaltigkeit beim Reisen verschrieben hat. «Der Tourismus am Meer leidet an einer Übernutzung. Gemeingüter wie Luft und Strand werden zu intensiv genutzt, sodass sie auf lange Sicht nicht mehr bewohn- und belebbar sind.»
Es wäre unerlässlich, sagt Florin, dass die Bevölkerung der Ferienregionen mitbestimmen könnte, welchen Tourismus sie wolle und wie viel davon – und sie sollte davon profitieren können.
Der Fachmann für ökologisches Reisen erwähnt behördliche Massnahmen, die Veränderungen bewirken könnten: «Mallorca führt Bussen für Fehlverhalten und eine Tourismus-Steuer ein, um die Reparatur der Umweltschäden zu finanzieren. Venedig denkt über Zutrittsbeschränkungen nach. Die Preise für Flüge und Übernachtungen müssen steigen, weil die gesamtgesellschaftlichen Kosten nicht gedeckt sind.»
«Wenn man für 549 Euro in ein Fünf-Sterne-Hotel in Kreta fliegen kann, ist das viel zu günstig. Da zahlt jemand drauf», sagt Jon Florin.
Zerstören Tiefpreise den Tourismus?
Die Dauertiefpreise hätten den Tourismus industrialisiert, zur «Käfighaltung» der Reisenden geführt, die «mit einer Hors-Sol-Haltung» unvorbereitet in Feriengebieten einfallen, manchmal ohne viel Respekt für Land und Leute.
Florin sagt: «Der Preiseinbruch führt zu einem exponentiellen Wachstum. Die Zahl der Reisen hat sich in zwanzig Jahren verdoppelt. Wenn das so weitergeht, zerstört sich der Tourismus selbst, weil er das Meer und die Küsten zerstört.»
Ökologisch Reisen, leicht gemacht
Dabei ist ökologisch bewussteres Reisen keine Hexerei. Seine Tipps fasst Jon Florin als «die vier L» zusammen: lokale Angebote wahrnehmen und nicht zu ferne Ziele ansteuern; langsam reisen, also mit dem Zug oder dem Fahrrad, und sich am Ferienort auch Musse gönnen; lesen, anders gesagt: sich mit Büchern, Filmen, Musik aufs Reiseziel einstimmen, um die dortigen Verhältnisse besser zu verstehen; auf Labels für Nachhaltigkeit achten.
Will jemand eine Reise ans Meer nicht zu aufwändig vorbereiten, rät Florin: «Entscheidend ist, nicht zu fliegen. Denn beim Flug entsteht der grösste CO2-Ausstoss. Ganz schnell reist man nicht, wenn man an die Umwelt denkt.»
Doch Ligurien, die Adria, der Atlantik, die Nord- und Ostsee sind mit dem Zug gut erreichbar. Vielleicht legt man unterwegs einen Halt ein, um eine Stadt zu erkunden, wie es Florin empfiehlt. «Man soll doch schon die Fahrt geniessen.»
Am Reiseziel sei es ökologischer, kein zu teures Hotel zu wählen, denn zwischen dem CO2-Fussabdruck und der Sternezahl bestehe eine Korrelation. «Ein Drei-Sterne-Hotel ohne Swimmingpool ist in der Regel viel umweltfreundlicher.»
Und mit Wasser und Abfall solle man so verantwortungsvoll umgehen wie zuhause. Mit grossem Verzicht sind diese Ratschläge nicht verbunden. Und auch wer in Zukunft nur alle paar Jahre interkontinental flöge und länger in Übersee bliebe, trüge viel zur Senkung der Treibhausgasemissionen bei.
Warum denn in die Ferne schweifen?
Stehen die Ferien erst in einigen Wochen im Dienstplan? Als Pragmatiker schwingen wir uns aufs Velo oder steigen ins Tram und fahren zum Hafen hinaus, zur «Sandoase» im Dreiländereck. Wir wählen aus Urs Poživils Karte erstmal einen Apéritiv.
Wir schauen auf den Rhein und sinnen darüber nach, dass «alles fliesst». Obwohl Heraklit, der Autor der bekannten Redewendung, den grossen Strom, der Graubünden mit Rotterdam verbindet, bestimmt nicht gekannt hat.