«Ich sehe mich nur im Badischen Bahnhof stehen mit einem Schild um den Hals mit einem grossen ‹Z› und einem grossen ‹H› drauf.» An diese Szene in Basel erinnert sich der deutsche Sozialwissenschaftler Günter Amendt (1939–2011) in einer SRF-Sendung 1995, 50 Jahre nach Kriegsende.
Er gehörte zu jenen Buben und Mädchen, die nach 1945 mit einem der sogenannten Kinderzüge aus einem europäischen Land für drei Monate zur Erholung in die Schweiz gebracht wurden.
Das Schild, das bei seiner Ankunft in Basel 1947 an seinem Hals baumelte, deutete es an: Der Junge, der aus dem zerbombten Frankfurt angereist kam, sollte nach Zürich weiterfahren, wo eine Gastfamilie auf ihn wartete.
Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK), das die Kinderzüge damals organisierte, hatte ihn registriert. Auf seiner Karteikarte war notiert: «Netter Junge, liest und bastelt gerne, zartes Kind. War viel krank, Vater ist gefallen.»
Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben eine Tafel Schokolade ganz allein für mich bekommen. Das ist heute noch eine Ungeheuerlichkeit für mich, dass ich eine Tafel Schokolade allein essen kann.
Heile Welt: Schweiz
Günter Amendts Aufenthalt in der Schweiz blieb positiv besetzt: «Ich bin damals freundlich aufgenommen worden. Ich denke sehr gerne auch heute noch zurück an meine Schweizer Patenmutter und habe die Gefühle, die ich für diese Frau entwickelt habe, einfach auf dieses Land übertragen.»
Einzelne Szenen blieben ihm, der in Zürich auch zur Schule ging, besonders in Erinnerung: «Ich weiss, dass ich fasziniert war von der Idee, dass man in einem geschlossenen Raum Ball spielen und turnen kann. Denn in Ginnheim, wo ich gelebt hatte, hatten wir als Kinder immer auf einem Trümmergrundstück gespielt. Ich hatte so was also noch nie gesehen.»
Er habe eine «heile Welt» erlebt, die bis ins Erwachsenenalter nachhallte: «Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben eine Tafel Schokolade ganz allein für mich bekommen. Das ist heute noch eine Ungeheuerlichkeit für mich, dass ich eine Tafel Schokolade allein essen kann.»
Im Zug Richtung Sicherheit
Nach 1945 wurden Tausende von kriegsgeschädigten Buben und Mädchen mit den Kinderzügen ins Land geholt. Da die Fahrt oft mehrere Tage dauerte, musste die Reise gut organisiert sein.
Eine der Zugbegleiterinnen, Elsi Aellig, erinnerte sich in einer späteren Radiosendung: «Unsere Küchenmannschaft kochte in einem Kessel Suppe oder es gab ‹Gschwellti› mit Käse. Am Morgen haben wir Butterschnitten geschmiert und es gab Kakao. Wir hatten auch ein paar Männer dabei im Begleitpersonal. Diese haben dann die Kessel getragen und die Verpflegung verteilt. Ein Zug führte jeweils acht Waggons, einen Küchenwagen und einen Wagen fürs Personal mit.»
Die Kinderzüge waren damals eine längst etablierte Form der humanitären Hilfe. Zu den Pionierinnen gehörte die Baslerin Mathilde Paravicini (1875–1954). Sie hatte sich mit anderen Frauen, die verschiedenen Hilfswerken angehörten, bereits während des Ersten Weltkriegs für Verwundete, Gefangene und Flüchtlinge eingesetzt.
Nach Hitlers Machtübernahme 1933 und während des Spanischen Bürgerkriegs (1936–1939) setzten die Frauen rund um Paravicini ihre Unterstützung fort. So organisierten sie etwa Erholungsferien für rund 5000 jüdische Emigrantenkinder, die in Frankreich in prekären Verhältnissen lebten.
Keine Hilfe mehr für jüdische Kinder
In der Kinderhilfe der 1930er-Jahre zeigte sich eine «andere Schweiz», ein humanitäres Engagement, das nicht der offiziellen Flüchtlingspolitik entsprach. Die Behörden erkannten die politische Brisanz dieses Engagements nicht sofort, wie die Historikerin Antonia Schmidlin in ihrer Dissertation über die Kinderhilfe schreibt.
Dies änderte sich, als mit der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für Kinderhilfe (SAK) 1940 ein Dachverband entstand, der die Tätigkeiten der verschiedenen Hilfswerke zusammenfasste. Nun waren auch pazifistische Organisationen wie der Internationale Zivildienst dabei.
Dies führte dazu, dass die Schweiz die Aktivitäten der SAK genauer verfolgte. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement schränkte die Hilfe ein: Die SAK durfte zwar noch Kinderzüge aus Frankreich durchführen, aber erhielt für jüdische Kinder keine Einreisebewilligung mehr.
«Durchsetzung» mit Juden «nicht erwünscht»
Die Behörden brachten eine Reihe von Argumenten vor, um jüdische Kinder auszuschliessen: «Judenkinder der ansässigen Franzosen sind meistens in besseren Verhältnissen. Es hat keinen Wert, diese empor zu füttern.» Zudem sei ihre Rückreise ins besetzte Frankreich nicht garantiert, da die Nationalsozialisten die Gesetze laufend verschärften.
Wenn sich die Verhältnisse aber verschlimmerten, wären die Schweizer Gastfamilien nicht mehr bereit, die Kinder zurückzuschicken: «Wir kämen dadurch mit der Zeit zu einer starken Durchsetzung unserer Bevölkerung mit Juden, was durchaus nicht erwünscht ist.»
In der Schweiz beugte sich die Arbeitsgemeinschaft für Kinderhilfe den restriktiven Vorgaben. Sie holte zwar weiterhin kriegsgeschädigte Kinder zur Erholung ins Land, schloss aber die jüdischen aus. In den Heimen, die sie in Südfrankreich betrieb, hielt sie hingegen ihre Unterstützung aufrecht.
Damit behielt das humanitäre Engagement der SAK zumindest im Ausland noch ein oppositionelles Potenzial – allerdings nicht sehr lange. Am 1. Januar 1942 unterstellte der Bundesrat die Kinderhilfe dem Schweizerischen Roten Kreuz (SRK).
Humanitäre Hilfe wird politisch
Diese Neuorganisation hatte politische Gründe, wie die Historikerin Antonia Schmidlin sagt. Der Bundesrat wollte gegenüber den kriegsführenden Staaten das Abseitsstehen der Schweiz im Krieg legitimieren und die Neutralität betonen.
Zugleich war es ihm wichtig, die aussenpolitischen Kontakte zu verbessern: Gerade weil die Schweiz neutral sei, könne sie helfen, argumentierte die Landesregierung. Und weil die Kinderhilfe im Ausland auf besondere Sympathie stiess, bot es sich an, sich damit zu profilieren.
Die mutige Schweizerin Rösli Näf
Die Fusion der Kinderhilfsorganisationen unter dem Dach des Schweizerischen Roten Kreuzes hatte Folgen für die weitere Tätigkeit. Das zeigt die Geschichte der Schweizer Krankenschwester Rösli Näf.
Sie stand im Dienst des SRK und betreute in der Kolonie «La Hille» bei Toulouse jüdische Jugendliche. Ab Sommer 1942 wurden in Vichy-Frankreich, dem autoritären Regime (1940–1944), das mit seinen deutschen Besatzern kollaborierte, Jüdinnen und Juden verhaftet und an das Nazi-Regime ausgeliefert. Die Gefahr bestand auch in den Heimen des SRK.
Am 26. August um fünf Uhr morgens fuhr in «La Hille» ein Lastwagen mit 40 französischen Gendarmen vor. Sie nahmen alle Jugendlichen, die älter als 16 Jahre alt waren, in ihre Gewalt und brachten sie ins Internierungslager in Le Vernet.
Rösli Näf setzte alles daran, sich Zutritt zu diesem Lager zu verschaffen, um die Jugendlichen vor der Deportation zu retten. Ein SRK-Delegierter vor Ort konnte sich mit dem Vichy-Regime in Verbindung setzen und die Zusicherung erhalten, bei den Jugendlichen aus «La Hille» eine Ausnahme zu machen.
Die Krankenschwester hatte also viel erreicht. Doch musste sie in Le Vernet zusehen, wie andere deportiert wurden: Eltern mussten ihre Kinder zurücklassen. Adressen, letzte Nachrichten, Schmuck und Wertgegenstände wurden ihr anvertraut.
Die Schweiz wies jüdische Kinder ab
Nach dieser schlimmen Erfahrung reiste Rösli Näf im September 1942 nach Bern und sprach bei Hugo Remund vor, dem Präsidenten der SRK-Kinderhilfe. Sie verlangte, alle jüdischen Kinder und Jugendlichen aus den Heimen des SRK in die Schweiz holen zu lassen.
Doch Remund lehnte den Antrag, gestützt auf den Bundesrat, ab. Für Rösli Näf klangen die Argumente erschütternd: Die jüdischen Schützlinge des SRK seien gar nicht gefährdet, die «Überbevölkerung» der Schweiz erlaube keine Aufnahme von weiteren Flüchtlingen und ein «Judenproblem» sei zu verhindern.
Als die Nationalsozialisten im November 1942 ganz Frankreich besetzten und weitere Deportationen anordneten, war es zu spät, um Verfolgte legal in die Schweiz zu bringen. Da entschloss sich Rösli Näf zur Fluchthilfe.
Doch eine der Gruppen von Jugendlichen, die versuchten, sich in die Schweiz zu retten, flog in der Nacht auf Silvester 1942 an der Grenze auf. Auf dem Polizeiposten ging eine junge Frau zur Toilette und konnte dort durch das Fenster flüchten. Die anderen vier wurden zurückgeschickt, deportiert und ermordet. Rösli Näf und eine weitere Fluchthelferin, Renée Farny, wurden von einem SRK-Mitarbeiter zudem denunziert, später verhört und entlassen.
Angeschlagenes Image nach Kriegsende
Nach Kriegsende befand sich die Schweiz in einer unbequemen Lage. Sie zog das Misstrauen der Siegerstaaten auf sich und galt als «Kriegsgewinnlerin»: Das Land war unversehrt geblieben, hatte nicht gegen die Nationalsozialisten gekämpft, sich aber am Krieg bereichert.
Für die Schweiz ging es nun darum, einen Imageschaden abzuwenden. Der freisinnige Bundesrat Max Petitpierre – er stand dem Politischen Departement vor – gab der Aussenpolitik eine neue Prägung: Er verband die Neutralität mit der Verpflichtung zur Solidarität.
Verbindung von Neutralität und Solidarität
Diese Strategie wurde mit einem 1944 neu gegründeten Hilfswerk umgesetzt: der Schweizer Spende. Dieses Programm sollte den Wiederaufbau im zerstörten Europa unterstützen.
Die Hilfe war nicht nur ein humanitärer Akt. Sie diente auch als Mittel zur politischen Selbstdarstellung und als Eintrittskarte in ein Nachkriegseuropa, das von den Siegerstaaten dominiert war, so die Historikerin Antonia Schmidlin. Auch innenpolitisch war die Verbindung von Neutralität und Solidarität wirksam.
Der humanitäre Anspruch bot neue Identifikationsmöglichkeiten: Nun konnten sich auch Bürgerinnen und Bürger engagieren, die während des Kriegs und der restriktiven Flüchtlingspolitik untätig geblieben waren.
Pestalozzidorf als Wiedergutmachung
Eine starke Hilfsbereitschaft zeigte sich beim Aufbau des Kinderdorfs Pestalozzi im appenzellischen Trogen. Hier sollten kriegsgeschädigte Kinder ein neues Zuhause bekommen: «Ihr Määtle und Buebe, wo kei Vatter und Muetter me hend, chömmed zu üus ue, d'Schtube isch parat!»
Mit diesem Aufruf bei der Grundsteinlegung 1946 – vorgetragen von einem Kind – inszenierte sich die Schweiz nach dem Krieg als Garantin von humanitärer Kinderhilfe.
Es hätte eine Stätte sein sollen, an der damals verfeindete Nationen zusammenkommen und Haus an Haus wohnen. Damit diese Kinder im frühen Alter lernen, den Nächsten als Menschen zu akzeptieren, unabhängig von Religion, Rasse, Nation.
Das Kinderdorf wurde nach dem bekannten Reformpädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) benannt und sollte an dessen Idee der «Wohnstuben-Pädagogik» anknüpfen. Kinder aus ganz Europa wurden hier nach Nationalitäten getrennt in frei stehenden Häusern untergebracht.
Sie sollten zunächst unter sich als Grossfamilie in einer «Stube» geschützt und geborgen aufwachsen, neues Vertrauen fassen und später mit den Kindern der anderen Nationen friedlich zusammenleben. Das Hauselternpaar war zugleich für den Unterricht in der Muttersprache verantwortlich und vermittelte eine ganzheitliche Bildung – für «Kopf, Herz und Hand» im Sinne Pestalozzis.
Die Idee für das Kinderdorf war noch während des Kriegs aufgekommen: Walter Robert Corti rief als Redaktor der Zeitschrift «Du» 1944 zum Bau eines Dorfs für europäische Kriegswaisen auf. Sein Vorschlag fand grossen Anklang.
Jetzt Solidarität zu zeigen, war eine Antwort auf die grosse Not und ein Stück Wiedergutmachung für die frühere Abweisungspolitik. Mit dem Kinderdorf konnte auf Schweizer Boden eine friedliche Welt «en miniature» errichtet werden.
Unterstützung aus Politik und Wirtschaft
Anuti Corti hielt Jahrzehnte später in einem Radiointerview fest, dass sie und ihr Mann mit Pestalozzis Pädagogik nach dem Krieg ein solches Zeichen setzen wollten: «Es hätte eine Stätte sein sollen, an der damals verfeindete Nationen wie Polen, England, Frankreich zusammenkommen und Haus an Haus wohnen. Damit diese Kinder im frühen Alter lernen, den Nächsten als Menschen zu akzeptieren, unabhängig von Religion, Rasse, Nation.»
Das Projekt sei ideell von vielen Freunden der Cortis unterstützt worden, etwa von der Zürcher Ärztin Marie Meierhofer, sagt der Kurator des Pestalozzidorfs, Marcel Henry, heute. Zudem engagierten sich viele Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft.
Die Städte Zürich, Winterthur und Basel sowie der Kanton Solothurn übernahmen jeweils die Kosten für ein Haus. Auch Unternehmen zeigten sich grosszügig: Die Chemie-Firma Ciba finanzierte das Polen-Haus, und die Migros kam für das Österreicher-Haus auf. Hinzu kamen Freiwillige aus dem In- und Ausland, die bereit waren, beim Bau der Häuser zu helfen.
Die Welt zu Besuch
Das Pestalozzidorf entwickelte sich zu einem humanitären Vorzeigeprojekt und das Gründerehepaar für ausländische Gäste zu einer begehrten Adresse, erinnerte sich Anuti Corti später: «Die vielen Gäste, die wir hatten! Da kamen alle – Inländer, Ausländer, Pädagogen, Professoren. Unsere kleine Wohnung war ein internationaler Boulevard. Und es hiess wie im Restaurant: ‹Frölein, zwei Tee, einen Kaffee›, ‹Frölein, dies und das›, ich machte und bewirtete, das war meine Aufgabe.» Die Cortis empfingen die Mutter des Dalai Lama und reisten auf Staatsbesuch zur niederländischen Königin.
In Weltis Worten ausgedrückt: «Wir Schweizer empfinden das Pestalozzidorf als unser Dorf und die armen Kinder, die armen Kriegswaisen, sind auch gewissermassen unsere Kinder, für die wir bisher gesorgt haben und weiter sorgen müssen werden.»