Selten wurde die Schweizer Neutralität so heiss diskutiert wie während des Ukraine-Kriegs und der Sanktionen gegen Russland. Erleben wir gerade einen Wendepunkt?
Nein und ja, meint die Politologin Anna-Lina Müller. Sie ist Co-Geschäftsführerin der Denkfabrik «Foraus» und Mitglied der Expertengruppe, die den Bundespräsidenten Ignazio Cassis bei der Ausarbeitung eines neuen Neutralitätsberichts berät.
SRF: Frau Müller, erleben wir eine Zeitenwende, was die Schweizer Neutralität angeht?
Anna-Lina Müller: Nein, es ist nicht neu, dass wir Sanktionen der EU oder der UNO übernehmen. Bereits der Neutralitätsbericht von 1993 sagt klar, dass das nicht im Widerspruch steht mit unserer Neutralität. Die Schweiz darf sich positionieren. Neutralität heisst nicht, gesinnungsneutral zu sein.
Dennoch deuten viele Stimmen im In- und Ausland die Übernahme der EU-Sanktionen als Bruch mit der Tradition der Neutralität. Warum?
In der Schweiz haben wir lange Zeit nicht über Neutralität gesprochen. Das müssen wir jetzt nachholen.
Die Schweiz wird nicht vermeiden können, stärker Position zu beziehen.
Was die Aussenwahrnehmung angeht, merken wir jetzt, dass wir es verpasst haben, Verständnis zu schaffen und unsere Neutralität besser zu erklären. Der neue Neutralitätsbericht des Bundesrates, der Ende August erscheint, möchte da mehr Klarheit schaffen.
Worin besteht der Kern unserer Neutralität?
Der Kern der Neutralität besteht im Neutralitätsrecht, das im Haager Abkommen 1907 festgelegt wurde. Er besagt im Wesentlichen, dass die Schweiz nicht Teil eines zwischenstaatlichen Krieges sein darf. Die Schweiz darf keine Truppen, kein Kriegsmaterial und auch nicht das eigene Territorium zur Verfügung stellen.
Die Lieferung von Waffen und Munition wäre also ein klarer Verstoss gegen die Neutralität?
Ja, direkte Exporte wären das definitiv. Auch bei indirekten Kriegsmaterialexporten bräuchte es Gesetzesänderungen, die aber mit der Neutralität nichts zu tun haben.
Ist die Neutralität der Schweiz überhaupt noch zeitgemäss?
Sie kann zeitgemäss sein, wenn wir eine gewisse Erwartbarkeit für unsere Partnerländer schaffen, wenn wir sie kohärent leben und sie für etwas Gutes in der Welt nutzen. Die Schweiz wird aber nicht vermeiden können, stärker Position zu beziehen.
Was heisst das konkret?
Neutralität darf nicht Opportunismus bedeuten. Wir sind Teil der westlichen Welt, was unsere Werte angeht. Wir sollten uns klarmachen, wer unsere wichtigsten Partnerinnen und Partner sind.
Laufen wir nicht Gefahr, in einen Krieg hineingezogen zu werden und unsere diplomatische Vermittlerrolle zu verlieren – die viel zitierten «guten Dienste»?
Die Schweiz hat anlässlich der Annexion der Krim 2014 einen Teil der EU-Sanktionen übernommen und trotzdem durch die OSZE-Präsidentschaft eine wichtige Vermittlerrolle gespielt. Ganz ähnlich beim Iran.
Wir sollten uns fragen, ob wir als Schweiz noch mutiger sein können.
Man kann also Position beziehen und dennoch gute Dienste leisten. Die beiden Dinge schliessen sich nicht aus.
Wie sehen Sie die Rolle der guten Dienste in Zukunft?
Wir sollten uns fragen, ob wir als Schweiz noch mutiger sein können. Unsere Dienste beschränken sich derzeit auf zwischenstaatliche Konflikte, obwohl die meisten Konflikte weltweit heute innerstaatlich sind.
Da könnten wir uns hineinwagen und versuchen, den Dialog offenzuhalten. Ich wünsche mir, dass wir in zehn Jahren zurückschauen und uns eine Geschichte des Mutes erzählen können.
Die Fragen stellte Yves Bossart. Das Interview ist die gekürzte Fassung eines längeren Gesprächs, das im Rahmen der «Sternstunde Philosophie» geführt wurde.