Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine verändert sich die Schweizer Politik. Die Parteien suchen eine neue Definition für ihr Neutralitätsverständnis. Ihre Entscheide haben nicht nur Einfluss darauf, wie die Schweiz ihre Neutralität interpretiert und lebt, sondern auch, wie sie im Ausland wahrgenommen wird.
Verändert werden Gesetzesartikel und Gewissheiten. Was in der Schweizer Politik jahrelang unmöglich schien, macht das Parlament plötzlich in kurzer Zeit möglich. Zuerst zeigte sich das an der Erhöhung des Armeebudgets. Die SVP war mit derselben Forderung vor vier Jahren chancenlos geblieben. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine dauerte es nur drei Monate, bis das Parlament einer Budgeterhöhung zustimmte. Nun hat der Nationalrat einer Forderung zugestimmt, die noch vor einem Jahr im Ständerat einzig bei linken Parlamentarierinnen und Parlamentariern Zustimmung fand.
Der Nationalrat will, dass die Schweiz künftig eigenständig Sanktionen gegen andere Staaten, Personen oder Firmen beschliessen kann – wenn diese an Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind. Heute übernimmt sie höchstens Sanktionen, die von der UNO, der EU oder anderen Handelspartnern eingeführt werden. Die Gesetzesänderung mag klingen wie eine Lex Ukraine. Doch die SP hat die Forderung ursprünglich im Kontext von EU-Sanktionen gegen China aufgebracht.
Konsequenzen für die Schweiz
Ausschlaggebend für den Entscheid des Nationalrats war der Positionswechsel der Mitte. Diese argumentiert, die Schweiz müsse wegen des Ukraine-Kriegs eine aktivere Rolle einnehmen. Sie solle der EU russische Personen oder Firmen nennen, die zusätzlich sanktioniert werden können – und selbst vorangehen können. Letzteres ist heute gestützt auf das Gesetz nicht möglich.
Die Kooperation mit der EU und anderen Partnern hat für viele Schweizer Parteien in den letzten Monaten an Bedeutung gewonnen. Falls die Änderung des Embargogesetzes im zweiten Anlauf auch im Ständerat durchkommt, sendet die Schweiz ein Zeichen an die EU: Dass sie bereit ist, künftig klarer Position zu ergreifen, selbst zur Akteurin zu werden. Dieses Zeichen wird aber auch in Russland oder China wahrgenommen werden, was wirtschaftlich wie politisch Konsequenzen haben könnte.
Ist das vereinbar mit der Schweizer Neutralität? Rechtlich gesehen ist die Antwort ja: Das Haager Abkommen schreibt der neutralen Schweiz nicht vor, wie sie im Bereich der Sanktionen handelt. Es verbietet ihr nur, sich militärisch in einen Krieg einzumischen.
Erst die Debatte, dann der Entscheid
Politisch ist die Frage komplexer – und die Parteien beantworten sie unterschiedlich: SP, Grüne, GLP und Mitte sagen ja, SVP und FDP sagen nein oder eher nein. Die Begründungen variieren: Die SP sieht die Schweiz angesichts der Völkerrechtsverletzungen durch Russland in der Pflicht, eine aktivere Rolle einzunehmen. Die Mitte will den Neutralitätsbegriff an die sicherheitspolitischen Interessen des Landes anpassen. Während die SVP jede Änderung der Sanktionspraxis als Gefahr für die Neutralität wertet, will die FDP die breitere Debatte über Neutralität abwarten.
Diese Debatte dürfte zwar interessant werden. Geprägt wird das Schweizer Neutralitätsverständnis aber durch konkrete Entscheide. Entscheide wie der heutige im Nationalrat. Noch ist unklar, ob auch der Ständerat eigenständige Sanktionen neu als wichtiges Zeichen einer verstärkten Kooperation sieht – oder sie weiterhin als gefährlichen Aktivismus abtut.
Klar ist: Folgen die Ständerätinnen und Ständeräte den Positionen ihrer Fraktionen im Nationalrat, erhält die Schweiz eine neue Sanktionspolitik. Dann muss der Bundesrat entscheiden, ob er diese auch in der Praxis anwendet.