Am 12. Juli 1892 besteigt die damals 34-jährige Lina Bögli den Schnellzug in Krakau, Polen. Es ist der Start ihrer ersten Weltreise. Mit einem Dampfschiff reist sie von Brindisi nach Sydney, Australien, und von dort weiter nach Neuseeland, Samoa, Hawaii, in die USA und nach Kanada.
Lina Bögli arbeitet als Sprachlehrerin in Privathaushalten, an Mädchenschulen und Gymnasien. In Hawaii wird sie vom Unterrichtsminister sogar zur ersten Lehrerin für moderne Sprachen ans einzige Gymnasium berufen.
Nach genau zehn Jahren kehrt Lina Bögli zurück in die Schweiz und schreibt ein Buch über ihre Erlebnisse. Es wird ein internationaler Bestseller. Heute gilt Lina Bögli als die erste Schweizer Reiseschriftstellerin. Dieser Weg war allerdings alles andere als vorgezeichnet.
Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen
Bögli wächst Mitte des 19. Jahrhunderts als jüngste Tochter eines Kleinbauern im bernischen Oberaargau auf. «Ein typischer Lebensentwurf für eine junge Frau aus diesen Verhältnissen war Dienstmädchen oder Magd», sagt die Historikerin Heidi Witzig, die zu Frauenbiografien in der Schweiz forscht.
Lina Bögli wusste offensichtlich genau, was sie will.
Tatsächlich arbeitet Lina Bögli zunächst als Bauernmagd und Dienstmädchen. Doch sie hat Glück: Eine polnische Familie wählt sie als Erzieherin für deren Kinder aus – als eine von 100 Bewerberinnen. Sie profitiert vom offenen, gebildeten Haushalt und kann mit ihrem sparsamen Lebensstil Geld auf die Seite legen. «Das war ihre Chance», so Witzig. Sie habe offensichtlich genau gewusst, was sie will.
Mit dem Ersparten finanziert sie sich die Lehrerinnenausbildung an der École Supérieure in Neuenburg und kehrt anschliessend nach Polen zurück. Von dort bricht sie schliesslich zu ihrer zehnjährigen Weltreise auf. Allein – und praktisch ohne Geld. «Ein erstaunlicher Schritt», sagt die Historikerin Witzig. Denn Alleinreisen war zu dieser Zeit Männern vorbehalten.
Erfahrene «Networkerin»
Überall, wo Lina Bögli den Fuss an Land setzt, baut sie sich eine neue Existenz auf. «Sie hat sich Netze geknüpft, die ein ganzes Leben lang gehalten haben, und zwar über alle Kontinente hinweg», sagt die Historikerin Heidi Witzig. «Das ist eine enorme Leistung.»
Die Reisen von Annemarie Schwarzenbach waren ein missglückter Ausbruch, die von Lina Bögli eine Karriere.
Dabei unterscheide sie sich von anderen Reiseschriftstellerinnen, die in der Schweiz später von sich reden machten. «Die Reisen von Annemarie Schwarzenbach waren ein Ausbruch, und zwar ein missglückter Ausbruch», so Witzig. Lina Bögli hingegen habe sich eine eigene, erfolgreiche Karriere aufgebaut.
Reisebericht wird Bestseller
Nach zehn Jahren Weltreise kehrt Lina Bögli zurück nach Polen und veröffentlicht 1904 unter dem Titel «Forward», auf Deutsch «Vorwärts», ein Buch über ihre Reise. Das Werk begeistert Leserinnen und Leser auf der ganzen Welt und wird in neun Sprachen übersetzt. 1906 erscheint eine deutsche Ausgabe.
Nach einer Anstellung als Lehrerin am Bodensee bricht Lina Bögli im Alter von 52 Jahren zu einer zweiten grossen Reise auf. Von 1910 bis 1913 reist sie durch Japan, China und Korea. Auch darüber wird sie später ein Buch schreiben. «Immer Vorwärts» erscheint mitten im Ersten Weltkrieg und ist deutlich weniger erfolgreich als ihr erstes Werk.
Bis zu ihrem Tod 1941 lebt Lina Bögli im Kreuz Herzogenbuchsee, dem ersten alkoholfreien Gasthaus der Schweiz. Sie hält Vorträge im ganzen Land, erteilt weiterhin Privatunterricht und ist eine gefragte Auskunftsperson für auswanderfreudige Schweizerinnen und Schweizer.