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Eine Schweizer Tierärztin reüssiert in der Männerwelt
Aus Zeitblende vom 15.06.2024. Bild: Ringier, aus Privatbesitz zur Verfügung gestellt
abspielen. Laufzeit 32 Minuten 28 Sekunden.

Vergessene Schweizer Pionierin Eine Tierärztin zwischen Krieg, Karriere und Grace Kelly

Elsa Mühlethaler war die erste Tierärztin der Schweiz mit eigener Praxis. Sie war eine Pionierin, die eine Männerdomäne eroberte und ein unkonventionelles Leben führte. Das eigene Pflichtbewusstsein wurde ihr zum Verhängnis.

Es ist eine Szene, die viel über Elsa Mühlethalers Persönlichkeit aussagt: Bei der Anatomieprüfung während des Studiums muss die angehende Tierärztin den Ischiasnerv eines Pferds untersuchen.

Eine wortwörtlich grosse Aufgabe für die klein gewachsene Frau. Ihr Professor bietet ihr eine alternative Prüfungsaufgabe an, doch Mühlethaler lehnt ab. Man solle ihr aber doch gern einen Schemel bringen, auf den sie sich stellen könne. Eine bevorzugte Behandlung wollte Elsa Mühlethaler nie.

Einzige Frau unter Bauernsöhnen

Elsa Mühlethaler lebte von 1917 bis 1998. Ihr Leben ist eine Geschichte über Mut, Verantwortung und Tierliebe. Ende der 1930er-Jahre nimmt sie als einzige Frau das Veterinärstudium in Bern in Angriff. Zu dieser Zeit lassen sich viele Söhne von Landwirten zu Tierärzten ausbilden.

Schwarzweissbild eines grossen Backsteingebäudes, im Hintergrund ein Fluss.
Legende: Zur Zeit von Mühlethalers Studium im Zweiten Weltkrieg wurde das Berner Tierspital in eine militärische Pferde-Kuranstalt umgewandelt. Staatsarchiv des Kantons Bern, Signatur: BB 05.10.3268

«Ich hatte Bedenken, als Frau unter so vielen Männern. Viele von ihnen waren vom Land und ich bin in der Stadt aufgewachsen», erzählte Mühlethaler selbst in bisher unveröffentlichten Aufnahmen. Ihre Kollegen seien jedoch allesamt sehr nett und umgänglich gewesen. Ihren Anatomieprofessor bezeichnete Mühlethaler sogar als eine Art zweiten Vater.

Frauen in Uniformen stehen in einer Reihe auf einer Wiese.
Legende: Während des Zweiten Weltkrieges nahm Elsa Mühlethaler (fünfte von rechts) an einem Kriegshundelager des Frauenhilfsdiensts der Schweizer Armee teil. Universitätsarchiv Bern, Dokumentation Else Mühlethaler

In der Schweiz entstanden die ersten Lehranstalten für Veterinärmedizin 1805 in Bern und 1820 in Zürich. Das Berner Tierspital wurde 1900 an die örtliche Universität angegliedert, die Zürcher Tierarzneischule 1901. Es waren die weltweit ersten universitären Veterinärfakultäten.

Verantwortungsvoller Posten

Elsa Mühlethaler ist mitten in der Ausbildung, als der Zweite Weltkrieg ausbricht. Am 2. September 1939 ordnet die Schweiz die allgemeine Mobilmachung an, hunderttausende Soldaten und dienstpflichtige Männer müssen einrücken. Ein Militärkommandant fragt Mühlethaler, ob sie am Tierspital assistieren könne. Sie willigt ein. Jede und jeder habe damals etwas für das Vaterland tun wollen: «Ich glaube, das war im ganzen Volk so.»

Frauen im Zweiten Weltkrieg

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Frauen hielten die Wirtschaft in der Schweiz am Laufen, als zahlreiche Männer einrücken mussten und übernahmen quasi von einem Tag auf den anderen Posten, die bisher den Männern vorbehalten waren.

Historikerin und Publizistin Franziska Rogger hat über die Arbeit von Frauen im Zweiten Weltkrieg geforscht: «Die Kriegszeit war natürlich bestimmt von Angst, aber so gesehen ergab sich auch eine berufliche Chance für die eine oder andere Frau.» Es sei aber auch einfach nicht anders gegangen: «Die Frauen haben einfach gemacht.»

«Elsa führte die Klinik lange fast ganz auf sich allein gestellt», erzählt Mühlethalers Nichte Elvire Kunz, die einen engen Kontakt zu ihrer Tante pflegte. Mühlethaler arbeitet Tag und Nacht. Sie besteht das Staatsexamen während der Kriegszeit. Erst zwei Frauen haben das vor ihr in der Schweiz geschafft.

Ein historisches Ereignis: Elsa Mühlethalers Praxis

Nach einem Aufenthalt bei der Firma Geigy in Basel, wo sie in der chemischen Industrie an Insektiziden forscht, eröffnet Mühlethaler in Bern als erste Frau schweizweit eine eigene tierärztliche Praxis. Zu einer Zeit, in der Kleintiermedizin gefragter ist denn je.

Frau in einem Labor sitzt an einem Mikroskop.
Legende: Elsa Mühlethaler 1947 im Labor der Firma Geigy, wo sie an der Erforschung von Insektiziden beteiligt war. Firmenarchiv Novartis, G FB 1 Mühlethaler Elsa Dr.med.vet. 1947

Nach dem Krieg und mit der aufkommenden Industrialisierung zieht es mehr und mehr Menschen in die Stadt. Viele von ihnen legen sich ein Haustier zu. Hunde gelten als Statussymbol. «Lassie» flimmert über die heimischen Bildschirme und der Pudel wird zum Modeaccessoire der High-Society.

Grace Kelly und ihr Pudel in Bern

Zu Elsa Mühlethalers Kundschaft gehören auch prominente Namen. Sie behandelt unter anderem die Pudelfamilie von Hollywoodstar Grace Kelly und deren Mann, Fürst Rainier III. von Monaco.

Eine Frau mit Hund auf dem Arm.
Legende: Für Elsa Mühlethalers Nichte, Elvire Kunz, war die Zeit mit ihrer Tante spannend – so kam sie doch in direkten Kontakt mit Grace Kelly. Imago / ZvG, Bildmontage: SRF

«Als Grace Kelly einmal die Praxis meiner Tante in Bern besuchte, bekamen wir Mädchen am Gymnasium schulfrei», erinnert sich Elvire Kunz. «Wir durften ihr die Tür aufhalten, den Mantel abnehmen und ihren Hund halten.»

Vier Personen und zwei Hunde vor einem Haus, schwarz-weiss Foto.
Legende: Hollywoodstar Grace Kelly (rechts) und ihr Ehemann Fürst Rainier III. von Monaco (links) liessen ihre Hunde von Elsa Mühlethaler pflegen. Aufnahme von 1977 während den Skiferien mit ihren Töchtern in Schönried. Keystone / Str

Auch die deutsche Schauspielerin Maria Schell bringt ihren Vierbeiner in Mühlethalers Praxis. Doch der mittlerweile bekannten Veterinärmedizinerin geht es in erster Linie ums Tier, nicht um Besitzerin oder Besitzer. «Sie war unglaublich pflichtbewusst», sagt ihre Nichte. «Sie gönnte sich nichts mehr, besuchte keine Konzerte mehr, ging nicht aus, weil ständig das Telefon klingelte.»

Bisher unveröffentlichte Aufnahmen von Elsa Mühlethaler

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Zeitblende
Legende: Zeitblende Der Podcast über historische Schweizer Figuren und Geschichten. SRF

Der SRF-Podcast «Zeitblende» beleuchtet das unkonventionelle Leben von Tierärztin Elsa Mühlethaler – mit ihrer Nichte Elvire Kunz, Historikerin und Publizistin Franziska Rogger und mithilfe bisher unveröffentlichter Gesprächsaufnahmen von Elsa Mühlethaler.

Fast zu jeder Uhrzeit sei ihre Tante ausgerückt, erinnert sich Elvire Kunz: «Noch dann, wenn ein Wellensittich Durchfall hatte.» Ihre grosse Einsatzbereitschaft bringt Elsa Mühlethaler an ihre eigenen Grenzen.

Vertrauenstierärztin des Zirkus Knie

Mühlethaler wird auch zur Vertrauenstierärztin des Zirkus Knie, wenn dieser in Bern gastiert. Fredy Knie Junior erinnert sich bestens an sie: «Ich war noch sehr jung, aber sie imponierte mir. Sie war klein und zierlich, konnte aber sehr gut mit den grossen Tieren umgehen. Sie wusste genau, was sie will und hatte ein kolossales Fachwissen.» Sie sei eine Seltenheit gewesen in einer Zeit, in der der Veterinärberuf noch fest in Männerhand war.

Chirurgin operiert einen Hund.
Legende: Kundinnen und Kunden schätzten Elsa Mühlethaler als pflichtbewusste und kompetente Ärztin. Ringier, aus Privatbesitz zur Verfügung gestellt

Elsa Mühlethaler selbst blieb eine Szene aus dem Zirkus Knie besonders in Erinnerung: Nach der erfolgreichen Behandlung von Orang-Utan-Männchen «Abu», legte dieser seinen Arm um die filigrane Frau. Sie interpretierte die Geste als Zeichen der Dankbarkeit. «Abu» sei tatsächlich sehr zahm gewesen, bestätigt Fredy Knie Junior, und habe ihm bekannte Menschen umarmt.

Rollenbilder prägen Mühlethalers Karriere

Anfang der 1950er-Jahre gibt es neben Mühlethaler nur einen einzigen Tierarzt in Bern und der Agglomeration. Heute sind es mehr als dreissig. «Sie konnte von den Rollenzuschreibungen profitieren, dass Frauen sanftmütiger und feinfühliger seien als Männer und somit besonders liebevoll mit Kleintieren umgehen könnten», sagt Historikerin und Archivarin Franziska Rogger, die in den 1990er-Jahren Elsa Mühlethaler für eine Publikation interviewt hatte. Mühlethaler sei sich dem bewusst gewesen.

Frau sitzt und liest ein Buch in einem Wohnzimmer.
Legende: Mühlethalers grosses berufliches Pflichtbewusstsein schränkt das Privatleben ein. Die Tierärztin sei jederzeit zu Notfällen ausgerückt, erzählt ihre Nichte. Ringier, aus Privatbesitz zur Verfügung gestellt

Das Zutrauen der Landwirte muss sie sich hingegen immer wieder erkämpfen. Ein Bauer habe ihr seinen Eber nur unter grössten Vorbehalten für eine Kastration übergeben, wie Mühlethaler gegenüber Franziska Rogger erzählte. Die Erleichterung sei im ins Gesicht geschrieben gewesen, als er sein Tier operiert und wohlbehalten zurückerhalten habe. Noch in den Siebzigerjahren ist in einer offiziellen Fachbroschüre zu lesen, dass Frauen zur Behandlung von Grosstieren gänzlich ungeeignet wären.

Die aufgelöste Verlobung

Mit 55 Jahren wird es Elsa Mühlethaler zu viel. Zu sehr hat sie sich verausgabt. Sie gibt die Praxis am Kollerweg in Bern auf und übernimmt ab da noch Vertretungen. Später, im Ruhestand, findet sie Zeit für Anderes: Sie spielt leidenschaftlich gern Querflöte und wird Mitglied bei Amnesty International, wo sie sich für Menschen in Not engagiert.

Erste weibliche Tierärztin der Schweiz mit Dalmatiner, Zeitungsartikel von 1962.
Legende: 1942 verkündet der Bund, dass «die erste schweizerische Tierärztin Elsa Mühlethaler den Titel eines Dr. med. vet. an der Universität Bern» erworben habe. Gosteli-Archiv

Mühlethaler bleibt ein Leben lang ledig. Laut ihrer Nichte Elvire Kunzes hätte es aber auch anders kommen können: «Sie war im Studium verlobt mit einem Tierarzt.» Doch der Mann habe auf eine katholische Ehe bestanden, was Elsa Mühlethaler nicht entsprochen habe: «Sie wollte sich ihre Selbstständigkeit bewahren.»

Tierarzt untersucht einen Hund, während zwei Personen zusehen.
Legende: Die berufliche Unabhängigkeit war für Mühlethaler ein hohes Gut, das sie sich mit ihrer eigenen Praxis bewahren konnte. Ringier, aus Privatbesitz zur Verfügung gestellt

An einem sonnigen Tag im September 1998 erliegt Elsa Mühlethaler dem Krebs – nach einer langen Leidenszeit. «Sie rauchte sehr viel, wegen des Drucks im Beruf und litt an rauchertypischen Krankheiten», erzählt ihre Nichte.

Veterinärmedizin: vom Männerberuf zur Frauendomäne

In den 1990er-Jahren kommt es zu einer Umkehr in der Veterinärmedizin. Erstmals legen mehr Frauen als Männer die eidgenössische Fachprüfung ab. Heute beträgt der Frauenanteil bei den eidgenössischen Diplomen über 85 Prozent. Keine andere Studienrichtung in der Schweiz hat einen so hohen Frauenanteil.

Depressionen und Erschöpfung im Veterinärberuf

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Tierärztinnen und Tierärzte haben ein wesentlich höheres Suizidrisiko als der Rest der Bevölkerung. Darauf weisen Studien hin. Die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken, ist bei Veterinärmedizinerinnen und -medizinern sogar um das Dreifache erhöht.

Leiden Sie an Suizidgedanken? Hilfe finden Sie zum Beispiel bei der Dargebotenen Hand (Telefonnummer 143).

Inspiriert von ihrer Tante, studierte auch Elvire Kunz Veterinärmedizin – selbst wenn jene ihr stets davon abgeraten habe. Trotz allem sagte Elsa Mühlethaler aber, dass sie ihren Beruf geliebt hat: «Ich würde ihn wieder wählen, wenn ich nochmals beginnen müsste.»

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Radio SRF 2 Kultur, Zeitblende, 15.6.2024, 10:03 Uhr

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