Es ist eine Szene, die viel über Elsa Mühlethalers Persönlichkeit aussagt: Bei der Anatomieprüfung während des Studiums muss die angehende Tierärztin den Ischiasnerv eines Pferds untersuchen.
Eine wortwörtlich grosse Aufgabe für die klein gewachsene Frau. Ihr Professor bietet ihr eine alternative Prüfungsaufgabe an, doch Mühlethaler lehnt ab. Man solle ihr aber doch gern einen Schemel bringen, auf den sie sich stellen könne. Eine bevorzugte Behandlung wollte Elsa Mühlethaler nie.
Einzige Frau unter Bauernsöhnen
Elsa Mühlethaler lebte von 1917 bis 1998. Ihr Leben ist eine Geschichte über Mut, Verantwortung und Tierliebe. Ende der 1930er-Jahre nimmt sie als einzige Frau das Veterinärstudium in Bern in Angriff. Zu dieser Zeit lassen sich viele Söhne von Landwirten zu Tierärzten ausbilden.
«Ich hatte Bedenken, als Frau unter so vielen Männern. Viele von ihnen waren vom Land und ich bin in der Stadt aufgewachsen», erzählte Mühlethaler selbst in bisher unveröffentlichten Aufnahmen. Ihre Kollegen seien jedoch allesamt sehr nett und umgänglich gewesen. Ihren Anatomieprofessor bezeichnete Mühlethaler sogar als eine Art zweiten Vater.
In der Schweiz entstanden die ersten Lehranstalten für Veterinärmedizin 1805 in Bern und 1820 in Zürich. Das Berner Tierspital wurde 1900 an die örtliche Universität angegliedert, die Zürcher Tierarzneischule 1901. Es waren die weltweit ersten universitären Veterinärfakultäten.
Verantwortungsvoller Posten
Elsa Mühlethaler ist mitten in der Ausbildung, als der Zweite Weltkrieg ausbricht. Am 2. September 1939 ordnet die Schweiz die allgemeine Mobilmachung an, hunderttausende Soldaten und dienstpflichtige Männer müssen einrücken. Ein Militärkommandant fragt Mühlethaler, ob sie am Tierspital assistieren könne. Sie willigt ein. Jede und jeder habe damals etwas für das Vaterland tun wollen: «Ich glaube, das war im ganzen Volk so.»
«Elsa führte die Klinik lange fast ganz auf sich allein gestellt», erzählt Mühlethalers Nichte Elvire Kunz, die einen engen Kontakt zu ihrer Tante pflegte. Mühlethaler arbeitet Tag und Nacht. Sie besteht das Staatsexamen während der Kriegszeit. Erst zwei Frauen haben das vor ihr in der Schweiz geschafft.
Ein historisches Ereignis: Elsa Mühlethalers Praxis
Nach einem Aufenthalt bei der Firma Geigy in Basel, wo sie in der chemischen Industrie an Insektiziden forscht, eröffnet Mühlethaler in Bern als erste Frau schweizweit eine eigene tierärztliche Praxis. Zu einer Zeit, in der Kleintiermedizin gefragter ist denn je.
Nach dem Krieg und mit der aufkommenden Industrialisierung zieht es mehr und mehr Menschen in die Stadt. Viele von ihnen legen sich ein Haustier zu. Hunde gelten als Statussymbol. «Lassie» flimmert über die heimischen Bildschirme und der Pudel wird zum Modeaccessoire der High-Society.
Grace Kelly und ihr Pudel in Bern
Zu Elsa Mühlethalers Kundschaft gehören auch prominente Namen. Sie behandelt unter anderem die Pudelfamilie von Hollywoodstar Grace Kelly und deren Mann, Fürst Rainier III. von Monaco.
«Als Grace Kelly einmal die Praxis meiner Tante in Bern besuchte, bekamen wir Mädchen am Gymnasium schulfrei», erinnert sich Elvire Kunz. «Wir durften ihr die Tür aufhalten, den Mantel abnehmen und ihren Hund halten.»
Auch die deutsche Schauspielerin Maria Schell bringt ihren Vierbeiner in Mühlethalers Praxis. Doch der mittlerweile bekannten Veterinärmedizinerin geht es in erster Linie ums Tier, nicht um Besitzerin oder Besitzer. «Sie war unglaublich pflichtbewusst», sagt ihre Nichte. «Sie gönnte sich nichts mehr, besuchte keine Konzerte mehr, ging nicht aus, weil ständig das Telefon klingelte.»
Fast zu jeder Uhrzeit sei ihre Tante ausgerückt, erinnert sich Elvire Kunz: «Noch dann, wenn ein Wellensittich Durchfall hatte.» Ihre grosse Einsatzbereitschaft bringt Elsa Mühlethaler an ihre eigenen Grenzen.
Vertrauenstierärztin des Zirkus Knie
Mühlethaler wird auch zur Vertrauenstierärztin des Zirkus Knie, wenn dieser in Bern gastiert. Fredy Knie Junior erinnert sich bestens an sie: «Ich war noch sehr jung, aber sie imponierte mir. Sie war klein und zierlich, konnte aber sehr gut mit den grossen Tieren umgehen. Sie wusste genau, was sie will und hatte ein kolossales Fachwissen.» Sie sei eine Seltenheit gewesen in einer Zeit, in der der Veterinärberuf noch fest in Männerhand war.
Elsa Mühlethaler selbst blieb eine Szene aus dem Zirkus Knie besonders in Erinnerung: Nach der erfolgreichen Behandlung von Orang-Utan-Männchen «Abu», legte dieser seinen Arm um die filigrane Frau. Sie interpretierte die Geste als Zeichen der Dankbarkeit. «Abu» sei tatsächlich sehr zahm gewesen, bestätigt Fredy Knie Junior, und habe ihm bekannte Menschen umarmt.
Rollenbilder prägen Mühlethalers Karriere
Anfang der 1950er-Jahre gibt es neben Mühlethaler nur einen einzigen Tierarzt in Bern und der Agglomeration. Heute sind es mehr als dreissig. «Sie konnte von den Rollenzuschreibungen profitieren, dass Frauen sanftmütiger und feinfühliger seien als Männer und somit besonders liebevoll mit Kleintieren umgehen könnten», sagt Historikerin und Archivarin Franziska Rogger, die in den 1990er-Jahren Elsa Mühlethaler für eine Publikation interviewt hatte. Mühlethaler sei sich dem bewusst gewesen.
Das Zutrauen der Landwirte muss sie sich hingegen immer wieder erkämpfen. Ein Bauer habe ihr seinen Eber nur unter grössten Vorbehalten für eine Kastration übergeben, wie Mühlethaler gegenüber Franziska Rogger erzählte. Die Erleichterung sei im ins Gesicht geschrieben gewesen, als er sein Tier operiert und wohlbehalten zurückerhalten habe. Noch in den Siebzigerjahren ist in einer offiziellen Fachbroschüre zu lesen, dass Frauen zur Behandlung von Grosstieren gänzlich ungeeignet wären.
Die aufgelöste Verlobung
Mit 55 Jahren wird es Elsa Mühlethaler zu viel. Zu sehr hat sie sich verausgabt. Sie gibt die Praxis am Kollerweg in Bern auf und übernimmt ab da noch Vertretungen. Später, im Ruhestand, findet sie Zeit für Anderes: Sie spielt leidenschaftlich gern Querflöte und wird Mitglied bei Amnesty International, wo sie sich für Menschen in Not engagiert.
Mühlethaler bleibt ein Leben lang ledig. Laut ihrer Nichte Elvire Kunzes hätte es aber auch anders kommen können: «Sie war im Studium verlobt mit einem Tierarzt.» Doch der Mann habe auf eine katholische Ehe bestanden, was Elsa Mühlethaler nicht entsprochen habe: «Sie wollte sich ihre Selbstständigkeit bewahren.»
An einem sonnigen Tag im September 1998 erliegt Elsa Mühlethaler dem Krebs – nach einer langen Leidenszeit. «Sie rauchte sehr viel, wegen des Drucks im Beruf und litt an rauchertypischen Krankheiten», erzählt ihre Nichte.
Veterinärmedizin: vom Männerberuf zur Frauendomäne
In den 1990er-Jahren kommt es zu einer Umkehr in der Veterinärmedizin. Erstmals legen mehr Frauen als Männer die eidgenössische Fachprüfung ab. Heute beträgt der Frauenanteil bei den eidgenössischen Diplomen über 85 Prozent. Keine andere Studienrichtung in der Schweiz hat einen so hohen Frauenanteil.
Inspiriert von ihrer Tante, studierte auch Elvire Kunz Veterinärmedizin – selbst wenn jene ihr stets davon abgeraten habe. Trotz allem sagte Elsa Mühlethaler aber, dass sie ihren Beruf geliebt hat: «Ich würde ihn wieder wählen, wenn ich nochmals beginnen müsste.»