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Schweizer Schulklasse im KZ «Alles scheint so harmlos»

Eine Schulklasse aus Oberwil (BL) besucht das Konzentrationslager in Dachau bei München. Was macht diese Exkursion mit den Jugendlichen?

Noch ist sich Yannig unsicher. Lässt sich das, was er hier gleich zu sehen bekommt, überhaupt begreifen? Der 18-Jährige gehört zur Schulklasse aus Oberwil (BL), die während zwei Tagen das ehemalige KZ in Dachau bei München besucht.

Antje Roser, Referentin in Dachau, wird die Klasse über das Gelände führen, mit den Jugendlichen diskutieren, Fragen beantworten. Die Klasse hat sich um eine Tafel versammelt. Darauf ist eine Schwarz-Weiss-Aufnahme zu sehen. «Ein Luftbild, das die Amerikaner ein paar Monate vor der Befreiung des KZ gemacht haben», erklärt Roser.

1000 Menschen, 1 Baracke

Zu diesem Zeitpunkt hausten dort zwischen 30’000 und 35’000 Gefangene in 34 Baracken. Platz boten die Baracken aber nur für 6000 Menschen.

Yannig rechnet, um zu begreifen, was das bedeutet: «35’000 Gefangene, untergebracht in 34 Baracken. Das heisst ungefähr 1000 Leute pro Baracke. Das ist mehr als unsere ganze Schule.»

Baracke
Legende: Rekonstruierte Häftlingsbaracke im bayrischen Dachau. imago images / imagebroker

«Was haben die SS-Leute ihren Familien, ihren Kindern über das KZ erzählt?», fragt Sara und deutet auf eine ehemalige SS-Unterkunft, die vis-à-vis vom Eingang des Konzentrationslagers steht. Hochrangige SS-Offiziere konnten hier mit ihren Familien wohnen.

Eine Frage, deren Antwort nicht einfach ist. Antje Roser sagt es so: «Man müsste wohl jede einzelne Familie anschauen: die Rolle der Verdrängung, des Nicht-Wahrhaben-Wollens, des Wegschauens. Aber auch die ideologische Rechtfertigung und Rationalisierung von Grausamkeiten – so, dass eine Ehefrau durchaus wissen kann, was ihr Mann tut, ohne ihn dafür zu verurteilen, ohne ihn als Massenmörder zu sehen, der er ist.»

Die jungen Frauen und Männer stellen Fragen, die sich vielleicht besonders dann stellen, wenn man tatsächlich vor Ort ist. Wenn man sieht, wie es damals ausgesehen hat.

Dreistöckige Hochbetten und Bänke aus Holz.
Legende: Schlafstätten und Aufenthaltsraum in der rekonstruierten Häftlingsbaracke, imago images / imagebroker

Gelände des Grauens

Der geführte Rundgang über das Gelände soll den Schülerinnen und Schülern die Dimension eines Konzentrationslagers vor Augen führen. Sie sollen die Räume sehen, über die sie bisher nur gelesen haben oder die sie vielleicht aus einem Film kennen: die Baracken, das Gefängnis, die Gaskammer, das Krematorium – all diese Orte des Schreckens.

Verbrennungsofen
Legende: Orte des Grauens: Verbrennungsofen im Konzentrationslager Dachau. imago images / Sven Simon

«Hier wird mir der Grad der Organisation, die Effizienz und Systematik eines solchen Konzentrationslagers nochmals deutlicher bewusst », sagt Silas. «Die SS ging hier tagsüber arbeiten, jeder hatte seine Aufgabe, abends gingen sie wieder nach Hause, und dann …» Silas bricht den Satz ab. Er findet die Worte nicht.

Ja, und dann?

Wie wird man zum Täter?

Auch Sarah treibt diese Frage um: «Die Leute, die im KZ arbeiteten und folterten, gingen abends nach Hause und waren dann wieder der liebevolle Vater, die nette Tante, die mit den Kindern Picknick macht – das lässt sich fast nicht zusammendenken.»

Die Frage nach den Tätern und Täterinnen ist am ersten Tag im KZ ein Schwerpunkt. Aber auch im Unterricht zuhause, erklärt Michael Strub, der Geschichtslehrer der Klasse.

Eingang in einen Raum. Darüber steht «Brausebad».
Legende: Eingang zur Gaskammer, als «Brausebad» getarnt. imago images / bonn-sequenz

«Es ist mir wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass die Nazis nicht einfach geisteskrank waren, sondern dass in einem totalitären System ganz normale Menschen zu grausamen Taten fähig sind», so Strub.

«Es gibt Handlungsspielraum»

Dafür sei es wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler verstehen, was Faschismus bedeutet. Was Totalitarismus ist. Wie eine Demokratie in eine Diktatur kippen kann.

«Aber die Jugendlichen sollen auch erkennen, dass es Handlungsspielraum gibt, wenn man die Courage hat – in jedem System», so Strub.

Gegen Ende des ersten Tages schaut sich die Klasse einen kurzen Dokumentarfilm über das KZ Dachau an. Einige der Schülerinnen nehmen sich in den Arm. Kopf auf Schulter. Andere haben die Augen geschlossen. Vielleicht ertragen sie die Bilder nicht, vielleicht sind sie auch einfach nur müde.

Zu belastende Eindrücke

Der erste Tag der Exkursion im ehemaligen KZ ist vorbei. Die Eindrücke kommen bei den Schülerinnen und Schüler ganz verschieden an. Einige sind sichtbar mitgenommen. Nadine kann nicht mehr.

Am zweiten Tag wird sie nicht mehr ins KZ gehen. Bei einer Tasse Schokolade und Kaffee sucht Geschichtslehrer Michael Strub das Gespräch mit Nadine. «Was hätten Sie anders gemacht als ich? Hätte ich Sie besser vorbereiten können?», fragt Michael Strub.

«Wir waren gut vorbereitet», sagt Nadine. «Aber ich hätte die Klasse vielleicht gefragt, ob überhaupt alle hierher mitkommen wollen. Für mich ist das zu belastend.»

Diese scheinbare Harmlosigkeit

Anders ist es bei Sara: «Ich hatte eigentlich ein bisschen Angst vor dieser Exkursion ins Konzentrationslager. Davor, dass ich es kaum aushalte. Und nun stehe ich da und fühle mich schlecht, weil ich wenig fühle», sagt sie. «Ich sehe die Bäume, die Strasse, die Sonnenstrahlen – und alles scheint so harmlos. Dabei war es hier so grausam und schrecklich.»

Gebäude mit Skulptur davor, die ausgehungerte Menschen darstellt.
Legende: Die Konzentrationslager-Gedenkstätte wurde am 5. Mai 1965 als Mahnstätte und Erinnerungsort in Dachau eröffnet. imago images / Revierfoto

Fühlt Sara eine Art unausgesprochene Erwartung, wie man sich hier zu fühlen hat? Einen Druck, «richtig» zu fühlen? «Es beängstigt mich einfach, dass ich das alles so nüchtern wahrnehme.»

Am zweiten Tag geht die Klasse erneut ins KZ. Sie beschäftigen sie sich mit der Rolle der Propaganda und den Lebensbedingungen im Lager. Viele Jugendliche haben wenig geschlafen, sind erschöpft. Und doch sind sie alle aufmerksam.

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