Im Podcast «Untenrum» dreht sich alles um die weibliche Sexualität. Journalistin Naomi Gregoris spricht mit Frauen über schöne, traurige oder auch lustige Erlebnisse.
Ein Gespräch über die gesellschaftliche Bedeutung von persönlichen Geschichten – und das befreiende Gefühl, unverblümt über Sex zu sprechen.
SRF: Sie schreiben, dass Ihr Podcast Frauen helfen soll, über das Frausein nachzudenken. Trauen sich Frauen tatsächlich noch immer nicht, unverblümt über Sexualität zu sprechen?
Naomi Gregoris: Das Problem ist nicht der Mut, sondern das Vokabular. Die ganze #metoo-Diskussion hat gezeigt, wie schwierig es uns fällt, zu definieren, was wir sexuell wollen.
Ausnahmslos jede Frau, mit der ich für diesen Podcast gesprochen habe, hat mindestens einmal in ihrem Leben «hingehalten», also Sex gehabt, ohne dass sie es eigentlich wollte. Wieso ist das so? Wieso können Frauen nicht hinstehen und sagen: Hey, heute nicht?
Es geht also doch um Mut?
Eben nicht. Das sind Frauen, die ganz locker über alles andere reden: Sex, Lust, ihre Körper. Die haben keine Angst, sich auszudrücken. Es geht aber um etwas, vom dem sie noch nie das Gefühl hatten, sie müssten es ausdrücken.
Viele Frauen haben erst durch #metoo realisiert, dass ihnen ja auch schon einmal ohne ihre Zustimmung ein Arbeitskollege seine Hand aufs Bein legte.
Oder dass sie eben auch öfters einfach hingehalten haben. Der erste Schritt besteht darin, solche Momente wahrzunehmen. Und danach müssen wir darüber reden. Wir müssen lernen, Grenzüberschreitungen mit Worten entgegenzutreten.
Da setzt «Untenrum» an: Wir hören andere Frauen erzählen, übrigens auch von tollen Erlebnissen, und merken: So erlebe ich das auch. So lernen, darüber zu reden – das ist ermächtigend.
Wie finden Sie Frauen, die bereit sind, öffentlich über solche Themen zu sprechen?
Die meisten Frauen, die jetzt im Podcast zu hören sind, habe ich über Aufrufe gefunden. Ich suche also nicht gezielt. Die Frauen melden sich immer bei mir.
Ich erlebe meine Gesprächspartnerinnen wie gute Freundinnen.
Ich mache auch nie ein Vorgespräch. Die Frau kommt zu mir, ich schalte das Aufnahmegerät an, und sie erzählt mir ihre Geschichte zum ersten Mal.
Wie erleben Sie die Frauen während und nach den Aufnahmen?
Wie gute Freundinnen. Es ist verblüffend, was während eines solchen Gesprächs passiert. Erst sind wir immer ein bisschen nervös, dann sage ich: Fang einfach mal an.
Der Rest ergibt sich dann von selbst. Am Ende sagen viele Frauen, dass es ihnen gut getan hat, einfach mal von A bis Z alles erzählt zu haben.
Das klingt fast ein bisschen therapeutisch.
Ist es. Auch für mich. Ich lerne viel von diesen Frauen.
Wie gross ist das Interesse an Ihrem Podcast?
Ich bekomme mehrmals pro Woche Emails und Nachrichten von Hörerinnen – und übrigens auch Hörern – die sich darüber freuen, dass es den Podcast gibt. Viele erzählen mir von persönlichen Erlebnissen.
Gerade nach der Episode, in der ich selbst über meine Fehlgeburt rede, sind unglaublich viele Menschen auf mich zugekommen. Darunter viele Frauen, die selber Fehlgeburten erlitten und es damals kaum jemandem gesagt haben. Die schrieben: Endlich geht mal jemand raus damit!
Podcasts, in denen Frauen über Sexualität sprechen, liegen im Trend. Welchen Einfluss haben sie auf die Gesellschaft?
Sie spielen eine extrem wichtige Rolle. Es ist doch so: Menschen lernen durch Geschichten. Die Rechenaufgabe «1 + 2» ist zu abstrakt für ein Kind, also sagt man: «Hans hat einen Apfel, Greta schenkt ihm zwei. Wie viele Äpfel hat Hans jetzt?»
Dieses bildliche Umschreiben hört auch im Erwachsenenalter nicht auf. Wir erzählen kontinuierlich Geschichten – anderen und uns selbst. Hören wir Geschichten von Fremden, können wir uns entweder mit ihnen identifizieren oder nicht. So entsteht Haltung.
In der zweiten Staffel werde ich mit Männern, oder Menschen, die sich als Männer definieren, sprechen.
Je mehr wir hören, desto differenzierter wird unsere Haltung und je persönlicher die Geschichten sind, desto grösser wird unser Einfühlungsvermögen. Dank neuen Distributionsmöglichkeiten, zu denen auch Podcasts gehören, können wir heute so viele persönliche Erzählungen hören wie noch nie.
Bis wir den Machtausgleich zwischen den Geschlechtern erreicht haben, dauert es aber noch eine ganze Weile, glaube ich. Wir realisieren ja gerade erst, dass die Machtstrukturen viel tiefer gehen als nur bis zur Lohnungleichheit. Dass Greta immer Hans ihre Äpfel geben muss – und nicht umgekehrt.
Ändert sich das, wenn Greta ihre Geschichte erzählen kann?
Ich hoffe es. Aber Hans muss genauso zum Zug kommen. Deshalb gibt's bei «Untenrum» nächstes Jahr auch eine zweite Staffel: Mit Männern und Menschen, die sich als Männer definieren.
Das Gespräch führte Bernard Senn.