Ein fast typisches Schulzimmer: Eine Wandtafel, Pulte, Poster – und zwei Kondomautomaten. Die sind allerdings «Ausser Betrieb», wie es auf einer Notiz heisst. Hochbetrieb dafür bei den Schülerinnen der Klasse 2AB: Die 13- und 14-Jährigen haben tonnenweise Fragen.
«Es ist gut, dass keine Buben dabei sind», meint Sarina. Und Una meint: «Hier trauen wir uns, all die Fragen zu stellen, die wir im Bio-Unterricht nie stellen würden.» Die Jungen sind im Zimmer nebenan und besprechen ihre Themen.
Das Angebot der Fachstelle für Sexualpädagogik und Beratung, «Lust und Frust», sei als Ergänzung zum Sexualkunde-Unterricht in der Schule gedacht, erklärt die Leiterin der Fachstelle Lilo Gander: «Es gibt Themen, die Jugendliche lieber mit externen Fachpersonen besprechen.»
Plüsch-Vulva und Disco-Klitoris
Die Klasse 2AB tut dies mit der Sexualpädagogin Linda Bär. Sie zeigt eine Plüsch-Vulva. Die Schülerinnen wollen wissen, wie Schamlippen normalerweise aussehen.
«In der Fachsprache sprechen wir von den ‹Scheidenlippen›. Denn mit Scham hat das eigentlich nichts zu tun. Jede Frau hat Scheidenlippen und die können ganz verschieden aussehen», erklärt Bär.
Dann ist da noch die grosse Unbekannte: die Klitoris. Die Schülerinnen der Sek-Klasse aber wissen Bescheid: «Da hinten hängt eine», sagt Una und zeigt auf ein Regal. Dort hängt an einem feinen Faden ein Klitoris-Modell. Silbrig glänzend, aus dem Material einer Disco-Kugel. Langsam, fast versonnen dreht sie sich: die Disco-Klitoris.
Auch viele Erwachsene wissen nicht, wie die Klitoris aussieht. Dass es bei der Klasse anders ist, überrascht Linda Bär. Una erklärt den Grund dafür: «Mandy, eine Sozialarbeiterin aus unserem Mittagshort hat ein Klitoris-Bild auf ihrer Handyhülle. Und eine Klitoris-Halskette!»
Mandy sei «glaubs» so eine Feministin, ergänzt eine andere Schülerin. «Seht ihr, Sichtbarkeit nützt», sagt Linda Bär, «ihr seid eine der wenigen Klassen, die die Klitoris erkannt hat.»
Zwischen Vor- und Zuversicht
Aufklärung hat immer auch präventiven Charakter: Vorsicht vor ungewollter Schwangerschaft! Achtung Krankheiten! «Prävention ist zentral. Die jungen Menschen müssen genügend Information über Verhütung haben und ihre Rechte kennen. Dabei sollte die lustvolle Seite der Sexualität aber nicht aus den Augen geraten», so Lilo Gander.
Auch das Thema Selbstbestimmung sei wichtig: «Man darf Nein sagen, man darf aber auch Ja sagen.» Sexualpädagogin Linda Bär betont das an diesem Morgen immer wieder: «Es ist wichtig, dass ihr spürt, was ihr wollt und was ihr nicht wollt.»
Das sagenumwobene erste Mal
Was will ich? Was nicht? Und wann? Diese Fragen beschäftigen die Schülerinnen in Bezug auf das erste Mal: «Sie, Frau Bär, tut es weh? Blutet es?»
Die Schülerinnen fragen, was das Zeug hält: «Ab wann darf man überhaupt?» Linda Bär geht auf alle Fragen ein und klärt die jungen Frauen auch über die rechtliche Situation in der Schweiz auf.
Neugierde, Wissen und Schamgrenze
An diesem Morgen geht es um viele Dinge: Selbstbefriedigung, körperliche Entwicklung, Mythen rund um Sexualität. Die Reaktionen der jungen Frauen sind ganz verschieden. Mal helle Begeisterung, dann zur Schau gestellte Empörung und Ekel. Von «Scho no nice!» bis «Wäh, grusig!» ist alles dabei. Zum Beispiel beim Thema Menstruation. Woher kommt dieser Selbstekel?
Die Schülerin Vivia erklärt: «Es gibt schon Dinge, die etwas grusig sind, aber hier in der Gruppe ist es eher so eine Kettenreaktion: Eine findet ‹wäh› und die anderen steigen ein. Wie ein Hype! Aber je mehr man darüber erfährt, desto normaler wird es.»
Wissen hilft gegen Mythen, und gegen die Unsicherheit. Una sagt: «Mir ist vieles klarer geworden. Einfach, weil es mir jemand mit neuen Worten erklärt hat. Ich weiss jetzt mehr als nur so ungefähr.»
Halbwissen aus dem Internet
Lilo Gander, Leiterin der Fachstelle Lust und Frust, arbeitet seit 20 Jahren in der Sexualpädagogik und sagt, die heutige Generation sei trotz Internet nicht besser informiert. «Sie haben zwar viel mehr Zugang zu Informationen und Bildern – das kann aber auch verunsichern.» So gebe es gerade im Internet viele Fehlinformationen.
«Umso wichtiger, dass die Jugendlichen mit Fachpersonen ihre Fragen und Unsicherheiten besprechen können – sofern sie das wollen.» Mitmachen muss an diesem Vormittag niemand.
Während die einen Schülerinnen mit unbändiger Neugierde und in aufgekratzter Stimmung mit dabei sind, sind andere still und in sich gekehrt. Aufmerksam aber scheinen sie alle.
Abgeklärt statt aufgeklärt?
Gibt es auch Klassen, die zu abgeklärt sind für Aufklärung? «Manche Jugendliche kommen mit einer demonstrativen Haltung im Sinne von: Was wollt ihr mir hier überhaupt noch beibringen?», erzählt Gander.
Das sei legitim, auch damit lasse sich arbeiten, sagt Gander. Sie frage dann: «Erzählt mal, was wisst ihr denn schon?» Häufig liessen sich dann Fehlinformationen korrigieren und dann merkten die Jugendlichen: «Aha, die kommen ja doch noch draus hier», und öffneten sich.
«De Dildo seht us wie en Delfin!»
Zum Schluss gibt es für die Klasse 2AB den Klassiker jedes Aufklärungsunterrichtes: Das Abrollen des Kondoms.
«Ich mach das jetzt einmal vor. Und die, die möchten, können das auch selber ausprobieren. Aber niemand muss.» Linda Bär verteilt Kondome und Dildos.
Es bricht Trubel und Heiterkeit aus. «Das Kondom schmeckt wie beim Zahnarzt!» «Mein Dildo sieht aus wie ein Delfin!» Eine Schülerin ruft vergnügt: «Achtung, Penisattrappe!» Applaus für die erste Schülerin, die das Kondom übergestreift hat.
Am Ende sind sich die Schülerinnen einig: Das war hilfreich. Es sei ein bisschen wie Berufsberatung gewesen, einfach zum Thema Sex, meint Sarina und fügt lakonisch hinzu: «Jetzt wissen wir die Wahrheit.»
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 31.1.2020, 09:03 Uhr.