«Die Babys kommen im Fall nicht vom Storch. Aber woher die kommen, sag’ ich nicht. Da musst du deine Mutter fragen.» Das habe eine Schulkollegin zu ihr gesagt, als sie in der 5. oder 6. Klasse war, erinnert sich Brigitte Ruckstuhl.
Die Historikerin und Public-Health-Fachfrau hat Jahrgang 1953. Über Sexualität sei in ihrem Elternhaus nie gesprochen worden. In der Schule auch nicht.
«Zuhause habe ich natürlich sofort meine Mutter gefragt. Ich bin in einem sehr katholischen Elternhaus aufgewachsen: Meine Mutter wurde rot, fing an zu stottern und antwortete dann, dass eine Geburt sehr schmerzhaft sei.»
Das grosse Schweigen
Ruckstuhl hat sich mit der Geschichte der sexuellen Aufklärung in der Schweiz intensiv auseinandergesetzt. Sie spricht vom «grossen Schweigen». Damit meint sie nicht die Verstocktheit der 1950er-Jahre, sondern das Stillschweigen, das im 19. Jahrhundert bei den Themen Sexualität und Sexualpädagogik herrschte.
Sexualität diente damals dem gesellschaftlichen Verständnis nach nur der Fortpflanzung. Geschlechtsverkehr hatte in der Ehe stattzufinden. Und: Sexuelles Verhalten, das nicht der Fortpflanzung diente – zum Beispiel Masturbation oder Homosexualität – wurde als «pervers» eingestuft.
«Dass das Schweigen gebrochen wurde, geschah nicht freiwillig», sagt Ruckstuhl. Schuld daran war letztlich die Industrialisierung.
Aufklären, um Gefahren abzuwehren
Ende des 19. Jahrhunderts zogen immer mehr Menschen in die Städte. Weg von der Familie und der strengen Dorfgemeinschaft entdeckten vor allem junge Männer die Vorzüge des ausserehelichen Geschlechtsverkehrs.
Die Gesundheitsbehörden sahen sich mit zwei grossen Problemen konfrontiert: Syphilis und Gonorrhö. Sexuell übertragbare Krankheiten wurden zu einer Epidemie, die man nicht länger ignorieren konnte.
Über die Gefahren von Geschlechtskrankheiten zu informieren, hiess auch, über sexuelles Verhalten zu reden. Es war die Geburtsstunde der sexuellen Aufklärung. «Am Anfang der Aufklärung stand also die Gefahrenabwehr», erläutert Ruckstuhl.
Damit tauchte auch eine Frage auf, die wir bis heute diskutieren: Wessen Aufgabe ist es, die Jugend zu informieren? Die Aufgabe der Eltern? Der Behörden? Der Schulen?
Sittliche Bedenken
In der Schweiz übernahm der Kanton Waadt eine Vorreiterrolle: Ab 1904 wurden Vorträge über die Gefahren des Geschlechtsverkehrs für Gymnasiasten zwischen 13 und 16 Jahren organisiert. Für Mädchen fanden keine Vorträge statt – wegen sittlicher Bedenken.
Schliesslich setzte sich die Meinung durch, Sexualaufklärung sei in erster Linie Sache der Eltern. Im Wissen, dass diese damit überfordert waren, wurden erstmals Sexualaufklärungsschriften für Kinder und Jugendliche angeboten.
Einer der bekanntesten Autoren war der Zürcher Arzt Hans Hoppeler. 1916 erschien seine Schrift «Woher die Kindlein kommen. Der Jugend von 8-12 Jahren erzählt». Auch wenn solche Ratgeber in Sachen Sexualaufklärung ein enormer Fortschritt waren, war deren Inhalt alles andere als progressiv.
Knaben müssen ihren «Trieb» kontrollieren
Die Botschaften waren deutlich: Die Aufgabe der Knaben war es, ihren «Trieb» zu beherrschen. Sie hatten zu lernen, gegen sinnliche Reize anzukämpfen.
Masturbation hiess es zu vermeiden: «Hütet euch, jene Organe in sündhafter Weise zu betasten und zu entweihen, die Gott euch verliehen hat zum Zwecke der Fortpflanzung», schrieb Hoppeler. Die Onanie sollte bis weit in die 1970er-Jahre als moralisch verwerfliche Praktik gelten.
Bei den Aufklärungsschriften für Mädchen stand die Rolle der künftigen Ehefrau und Mutter im Mittelpunkt. Sex gab es weiterhin nur in der Ehe, die zentrale Aufgabe der Mädchen war es, ihre Keuschheit zu bewahren.
Die Schriften blieben vage und bedienten sich einer bildreichen Sprache: «Gleich herrlichen Blumen blühen alle diese göttlichen Triebe im Garten unserer Seele, wenn aber der Pesthauch des Satans sie trifft, dann fangen sie an, sich hässlich zu blähen.»
Trennung von Sex und Reproduktion
Auch wenn die sexuelle Aufklärung teilweise unkonkret bis unverständlich blieb: Dass man über das Unaussprechliche sprach, war der erste, einschneidende Wandel in der Sexualpädagogik. Ein zweiter Wandel, nicht weniger wichtig, vollzog sich rund 50 Jahre später: die Trennung von Sex und Reproduktion.
Der Gedanke, dass Sexualität ihre Berechtigung hatte, ohne dabei Kinder zu zeugen, war revolutionär. «Mit der Erfindung der Pille im Jahr 1961 war dieser Wandel vollzogen», so Brigitte Ruckstuhl.
Die Historikerin betont, dass diese Veränderung nicht von heute auf morgen passierte. «Das Umdenken fing bereits in den 1920er-Jahren an. Wegen der Abtreibungsfrage wurden von Sexualreformern erstmals Verhütungsmittel propagiert. Ab den 1930er-Jahren gab es Aufklärungsbücher für Ehepaare, die Sexualität in der Ehe als bereichernd beschrieben. In dem Zusammenhang war auch die Verhütung ein Thema.»
Sex bereichert die Ehe
Sex sollte immer noch primär in der Ehe stattfinden – aber nicht mehr nur als Mittel zur Fortpflanzung dienen. Zur Rolle der patenten Hausfrau kam nun die der «guten Liebhaberin», wie der deutsche Mediziner Fritz Kahn in seinem Buch «Muss Liebe blind sein? Schule des Liebes- und Eheglücks» von 1957 beschrieb.
Wenn der Mann von der Arbeit nach Hause kommt, wird darin geschildert, serviert die gute Ehefrau den Lieblingswein, macht den Kamin an und kommt später «in einem duftigen Halbgewand wieder und streckt sich auf dem weissen Bärenfell aus, und nun liegt sie vor dem Feuer wie eine Nymphe».
Die Idee von Sex als Lustquelle setzte sich immer mehr durch und läutete den dritten, grossen Wandel in der Geschichte der Sexualpädagogik ein: den gesellschaftlichen Aufbruch in den 1970er-Jahren.
Dann kam die (angebliche) Befreiung
Zu dieser Zeit sei die «alte» Sexualmoral des Verzichts und der Kontrolle mehr und mehr infrage gestellt worden, so Ruckstuhl. Die 68er-Bewegung wollte sich aus den repressiven Sexualnormen «befreien», die sie auch als Mittel politischer Unterdrückung wahrnahm. «Bis in die 1970er-Jahre war die Vorstellung der Unterdrückung vorherrschend – dann kam die Befreiungsrhetorik.»
Sexualität wurde als positive Energie betrachtet, die unabhängig von der Fortpflanzung gelebt werden konnte und nicht auf die Ehe beschränkt war. Damit änderten sich die Anforderungen an die sexuelle Bildung: Man musste nicht mehr nur aufklären, wie Kinder entstehen und vor Krankheiten warnen, sondern sollte vermitteln, dass Sex etwas Positives sei.
Dr. Sommer, übernehmen Sie!
Nicht nur die Aufgaben und Ziele der Sexualerziehung veränderten sich, sondern auch die Kanäle: Eine wichtige Funktion in der Deutschschweiz übernahm die Jugendzeitschrift «Bravo». Für mindestens eine Generation wurde «Dr. Sommer» zur ersten und oft auch wichtigsten Informationsquelle für sexuelles Wissen.
Seit den 1960er-Jahren kam aber auch die Diskussion wieder auf, ob es nicht doch die Aufgabe von Schulen sei, die Jugend aufzuklären. Es gab erste Anläufe an Schweizer Schulen, das Fach «Sexualerziehung» blieb allerdings fakultativ.
Damit sich der Aufklärungsunterricht in der Schweiz durchsetzte, musste erst wieder ein Bedrohungsszenario entstehen: HIV/Aids.
Was über Jahrzehnte ergebnislos diskutiert worden war, setzte sich angesichts der Bedrohung durch die Krankheit in den 1980er-Jahren durch: die Integration von Sexualerziehung in der Schule. Bis heute: Auch im aktuellen Lehrplan 21 ist Sexualkunde fester Bestandteil.
Alles kann, nichts muss
Der vierte grosse Schritt in der Geschichte der Sexualaufklärung passierte in den 1990er-Jahren. In der Folge von «68» waren verschiedene Emanzipationsbewegungen entstanden: etwa die Frauen- oder Schwulenbewegung.
Später organisierten sich auch Transmenschen oder Intersexuelle, um sich Gehör zu verschaffen. Sie alle forderten ein Ende der Diskriminierung, gleiche Rechte – und sexuelle Selbstbestimmung.
«Mit den pluralen Lebensstilen entwickelte sich auch in der Sexualität eine Vielfalt an Formen und Spielarten – jenseits der Vorstellung von Unterdrückung und Befreiung», sagt Brigitte Ruckstuhl. Grundlage dieser neuen Sexualethik ist die «Verhandlungsmoral»: Sie erlaubt alles, was erwachsene und gleichberechtigte Personen gemeinsam aushandeln.
«Die Verantwortung für das, was gelebt wird oder gelebt werden möchte, übernimmt nun das Individuum», so Ruckstuhl. Alles kann, nichts muss.
Das schafft neue Freiräume – aber auch Leistungsdruck. Das erste Mal in der Geschichte der Sexualität geht es nicht mehr (nur) um Verbote, sondern um Optimierung.
Generation Porno
Dass das Individuum für seine möglichst lustvoll gelebte Sexualität selbst verantwortlich ist, gilt heute als selbstverständlich. Doch einen grossen Unterschied zu den 1990er-Jahren gibt es: Man kann heute nicht mehr über Sex sprechen, ohne das Internet einzubeziehen. Was sagt die Sexualpädagogik zur «Generation Porno»?
Das Internet, die dort frei zugängliche Pornografie gekoppelt mit Smartphones und Social Media seien heute definitiv eine Herausforderung, sagt der Sexualpädagoge und Psychologe Roland Demel: «Man darf das allerdings weder verteufeln noch skandalisieren.»
Halbwissen und falsche Erwartungen
Eine Tatsache ist: Viele Kinder und Jugendliche werden heute durchs Internet mit pornografischen Inhalten konfrontiert, bevor sie eigene Erfahrungen machen. Laut der Studie «EU Kids Online Schweiz» von 2019 haben rund 10 Prozent der 9- und 10-Jährigen sexuelle Darstellungen im Internet, am Computer oder per Handy gesehen. Bei den 16-Jährigen sind es 68 Prozent. Die Folgen sind oft Halbwissen, falsche Erwartungen, problematischer Druck.
Das kann Demel bestätigen: «Pornografie ist recht früh Thema, bereits in der Primarschule, in der fünften und sechsten Klasse. Diese Inhalte sind ja für Kinder gar nicht gedacht – sie bekommen es aber trotzdem mit. Deshalb ist es wichtig, dass man mit ihnen darüber spricht.»
Die neue Aufgabe der Sexualpädagogik sei es, einen produktiven Umgang mit dieser Fülle von Informationen, Bildern oder Videos aus dem Internet zu vermitteln. Und zu klären, was Realität und was Fiktion ist.
«In unseren Kursen erklären wir, ordnen ein, und reden auch darüber, was man darf und was nicht», sagt Roland Demel. «In Pornos sieht etwa Analsex mühelos aus, geht ohne Schmerzen und ohne Kondom. Aber: Das ist in echt überhaupt nicht so.»
Eine neue Ära
Roland Demel betont aber, dass das Internet auch eine positive Rolle beim Finden der eigenen Sexualität spiele. «Als Jugendlicher kann man sich heute viel leichter informieren – es gibt grossartige Beratungsangebote im Internet.»
Gerade für Minderheiten, die bisher grosse Mühe hatten, Gehör zu finden, wie zum Beispiel Transmenschen oder Asexuelle: «Diese Menschen finden Gleichgesinnte im Internet und merken: Sie sind nicht allein.»
Stecken wir also durch die neuen Technologien wieder in einem historischen Wandel, was die Sexualpädagogik angeht? Historikerin Brigitte Ruckstuhl nickt: «Wenn man sich die Geschichte der Sexualität anschaut, denke ich, dass das Internet sehr viel verändert und weiter verändern wird. Wir stecken mitten in einem Wandel, der womöglich auf eine neue Ära hinweist.»
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 31.1.2020, 09:03 Uhr.