Es passierte vor sieben Jahren. Gaëlle hatte sich aufs Festivalwochenende gefreut. Aber es kam anders: Schwer traumatisiert kehrte sie nach Hause zurück, nachdem ihr ein Typ ins Zelt gefolgt war und sie vergewaltigt hatte.
«Wenn wir über Festivals in der Schweiz sprechen, geht es immer um Spass», sagt Gaëlle heute. Aber sexualisierte Gewalt geschehe an Festivals überall auf der Welt. Dafür will sie ein Bewusstsein schaffen.
Heute kann Gaëlle über ihre Erfahrungen sprechen, ohne in ihr Trauma zurückgeworfen zu werden. Bis sie diesen Punkt erreicht hat, ist sie einen jahrelangen, harten Weg gegangen.
Schmerzen, Flashbacks und Panikattacken
«Am Anfang waren die Schmerzen», erinnert sich Gaëlle. Ihre Verletzungen liess sie kurz nach der Tat im Spital untersuchen und dokumentieren. Dann beschlich sie eine Angst: «Was, wenn er mich mit einer Krankheit angesteckt hat?»
Später bekam ihre Angst eine neue Dimension und verfolgte sie lange Zeit. Die Folge: Schlafstörungen, Panikattacken, Weinkrämpfe. Viel habe sie damals zurückversetzen können: «Eine Vergewaltigungsszene im Film – und ich musste das Kino verlassen.»
Es gebe verschiedene Trigger, Schlüsselreize, die bei den Betroffenen Flashbacks auslösen können, sagt Psychotherapeutin Noemi Friedli. Sie berät bei der Opferhilfestelle Lantana in Bern.
Ein Geruch könne die Betroffenen zurückkatapultieren, wie zum Beispiel Parfüm oder Schweiss. Ein Geräusch, etwa die Klangkulisse eines Festivals. Auch ein Gefühl im Körper kann einen Flashback auslösen, wie das eigene Herzklopfen beim Joggen. Flashbacks sind weit mehr als nur Erinnerungen: «Sie sind ein Wiedererleben mit allen Sinnen», sagt Friedli.
Warum hast du nicht geschrien?
Gaëlle sprach vor vier Jahren schon einmal in der SRF-Sendung «Input» über ihre Vergewaltigung und über das, was danach kam. Seit der letzten Begegnung ist viel passiert. Damals sprach sie unter einem Pseudonym. «Heute bevorzuge ich meinen Namen», sagt Gaëlle (der Nachname ist der Redaktion bekannt).
Als «Anna» erzählte sie vor vier Jahren, wie für sie der Horror im Alltag weitergangen sei. Betroffenen von sexualisierter Gewalt wird oft eine Mitschuld gegeben. Sie werden gefragt, wie viel sie getrunken haben oder wie sexy ihr Outfit gewesen sei.
Oder warum Gaëlle nicht um Hilfe geschrien habe – auf einem Festivalzeltplatz hat es viele andere Menschen, es hätte bestimmt jemand helfen können? Aber Gaëlle konnte nicht schreien.
Es geht in erster Linie ums Überleben
Der Körper schalte bei extrem bedrohlichen Situationen in den Überlebensmodus, erklärt Psychotherapeutin und Beraterin Noemi Friedli: «Ist Flucht oder Kampf möglich? Wenn nicht, fallen Betroffene in eine Starre.» Der Körper fährt sein System automatisch auf ein Minimum herunter. Es gehe nur noch darum, aus einer bedrohlichen Situation lebend herauszukommen.
Auch die Psyche hat eine Methode zum Überleben: das Verdrängen. Oft verdrängten Betroffene die traumatische Erfahrung, um ihren Alltag leben zu können, erklärt Noemi Friedli: «Die Erinnerung ist wie ein Ball, den Betroffene ins trübe Wasser drücken. Der Ball soll unten bleiben, weil es sonst zu belastend wäre.»
Ploppt dieser Erinnerungsball eines Tages zwangsläufig an die Oberfläche zurück? Nicht unbedingt: «Es gibt Betroffene, die ein einmaliges traumatisches Erlebnis sehr gut in ihren Lebenslauf integrieren können und Ressourcen haben, es zu überwinden.»
Wer aber noch ein halbes Jahr danach unter Panikattacken, Angstzuständen oder Schlafstörungen leide, sollte in Therapie. Sonst können sich Traumafolgestörungen wie eine Depression, Alkoholismus oder Essstörungen entwickeln.
Wieder leben lernen
Gaëlle holte sich schon sehr früh Hilfe, weil die Vergewaltigung ihr Leben stark verändert hatte. Sie wollte schnell etwas dagegen tun: «Ich wollte es nicht in mir begraben.»
Ihre erste Therapie begann sie nach zwei Wochen, zu früh: «Ich bin erstarrt und bekam Panik.» Gaëlle brach die Therapie ab. Anderthalb Jahre später versuchte sie es wieder – mit Erfolg: «Es ging in meinem Tempo vorwärts. Ich merkte, dass ich über alles reden konnte. Es fühlte sich richtig an und ich wusste, dass ich am richtigen Ort bin.»
Nicht jeder und jedem hilft die gleiche Therapie. Gaëlle hat sich als Therapieform die Hypnose ausgesucht: «Nur darüber zu sprechen, hätte mir nicht gereicht. Ich bin ein visueller und emotionaler Mensch. Ich wollte eine Therapie, die Bezug darauf nimmt, was ich in meinem Körper spüre.» Also informierte sich Gaëlle und fand durch eine Opferberatungsstelle einen Therapeuten, der mit Hypnose arbeitet.
Medizinische Hypnose hat nichts mit Hypnose in Shows gemeinsam, wo Menschen mit einem Pendel in Trance versetzt werden und absurde Dinge tun. Hypnose als Therapie kann bei körperlichen und psychischen Leiden heilsam sein, etwa bei Schlafproblemen, chronischen Schmerzen oder als Hilfe, um mit dem Rauchen aufzuhören.
Nicht nur die Therapie packte Gaëlle früh an. Sie holte sich auch die Musik zurück in ihr Leben. Musik und Festivals bedeuten ihr die Welt: «Er sollte nicht die letzte Erinnerung sein, die ich an dieses Festival habe», sagte sie sich. Also ging Gaëlle im Jahr darauf wieder hin, in Begleitung von Menschen, denen sie vertraut: «Ich musste meine eigenen, neuen Erinnerungen schaffen».
Wieder lieben lernen
Auch ihre Sexualität wollte sie sich nicht nehmen lassen: «Viele haben nach einer Vergewaltigung Schwierigkeiten mit ihrer Sexualität. Ich wollte auch hier nicht, dass dies meine letzte Erinnerung bleibt.»
Gaëlle war damals in einer Beziehung: «Ich wollte bald wieder Sex. Aber mein damaliger Freund konnte das nicht.» Auch für einen Partner könne das Leben danach sehr belastend sein: «Wir mussten da als Paar durch.»
In späteren Beziehungen habe sie immer klar gemacht, wo ihre Grenzen seien, um nicht getriggert zu werden: «Man muss wissen, was man will und klar miteinander kommunizieren, bevor man Sex hat.»
«Ich musste den Täter finden»
Eine weitere grundlegende Sache hat sich mit den Jahren ebenfalls verändert: Früher wollte Gaëlle nicht vor Gericht. «Ich weiss, dass er freikommen wird, wie viele andere», waren damals ihre Worte.
Wer wegen sexualisierter Gewalt vor Gericht zieht, darf sich häufig nicht zu viel erhoffen: Oft steht Aussage gegen Aussage, meist gibt es keine Zeuginnen oder Zeugen. Im Zweifel entscheidet das Gericht für die Angeklagten. Trotzdem entschied Gaëlle später, dass die Zeit nun doch gekommen sei, um vor Gericht zu gehen.
Sie habe vom Täter weder den Nachnamen noch sonst etwas gewusst: «Ich kannte einzig den Vornamen», zu wenig für eine Anklage. «Ich weiss, es klingt seltsam, aber ich musste ihn finden», erklärt Gaëlle. Ihr Plan: Wieder ans Festival gehen, ihn suchen, an seine Identität kommen.
Gaëlle setzte ihren Plan um, entdeckte ihn in der Menge während eines Konzerts. Sie ging zu ihm hin und fragte: «Wollen wir nachher etwas trinken? Hast du mir deine Nummer?» «Klar», habe er gemeint und ihr seine Nummer gegeben, ohne sie wiederzuerkennen.
Das sei ein schrecklicher Moment gewesen: «Danach habe ich stundenlang gezittert und geweint.» Eine Freundin habe sie begleitet und unterstützt. Trotzdem war es für Gaëlle auch ein Erfolg: «Ich habe es geschafft. Ich habe nun seine Identität. Ich weiss, wer er ist. Das gibt mir Macht und das hilft mir.»
Alle Beweise vernichtet
Danach kam die Enttäuschung: Seine Identität zu kennen, brachte Gaëlle für die juristische Aufarbeitung nichts. Das Spital habe wegen des Datenschutzes alle Beweise vernichtet.
Ein Jahr nach der Aufnahme ihres Falles seien sämtliche Fotos, Befunde und ihre Aussagen vernichtet worden. «Ich habe damals meine Einwilligung dafür gegeben», sagt Gaëlle. Aber damals habe sie nicht wissen können, dass ihr ein Jahr nicht reichen würde: «Im Jahr darauf war ich nicht im Stande, überhaupt an eine Klage zu denken, geschweige denn, all die Beweise zu sichten. Das wäre viel zu früh gewesen.»
Je nach Kanton gingen die Spitäler anders vor, erklärt Noemi Friedli. Im Kanton Bern etwa würden die Unterlagen für fünf Jahre aufbewahrt, damit die Betroffenen auch Jahre später noch eine Chance haben.
Gerechtigkeit hat verschiedene Gesichter
«Vor Gericht zu gehen, wäre ein Teil der Heilung gewesen», sagt Gaëlle. «Ausserdem wollte ich andere vor ihm schützen.» Gerechtigkeit ist oft ein grosses Thema, weiss Psychotherapeutin und Beraterin Noemi Friedli aus Erfahrung.
Es gebe verschiedene Vorstellungen davon, was gerecht sei: «Es gibt Betroffene, die eine Anzeige machen wollen, egal, was dabei herauskommt. Er soll damit konfrontiert werden und bei der Polizei eine Aussage machen.» Das könne als Strafe empfunden werden.
In einem Punkt gebe es aber Einigkeit: «Der Schaden ist nicht reversibel und kann nicht wieder gutgemacht werden», auch nicht mit juristischen Mitteln.
«Heute fühle ich mich stärker»
Es bleibe eine Wut zurück, aber sie habe ihr Trauma verarbeitet, sagt Gaëlle heute, sieben Jahre danach: «Ich fühle mich geheilt.» Es gebe aber noch immer Zeiten, an denen sie mehr daran denke – etwa, wenn sich die Tat jährt, was gerade der Fall ist.
Rückblickend fühle sich Gaëlle stärker als damals: «Weil ich das Schlimmste, was in meinem Leben passiert ist, verarbeitet habe.» Diese Stärke nutzt Gaëlle: Sie hat vor einiger Zeit ihren Job in der Schweiz gekündigt und alles auf ihren grossen Traum gesetzt: auswandern in eine Stadt, in der die Musik pulsiert. Sie hat sich dort beruflich ihrer Leidenschaft gewidmet, der Musik. «Ich habe es geschafft», sagt sie lachend.
«Post Traumatic Growth» werde dieses Phänomen in der Wissenschaft genannt, wenn innere Stärke aus einem Trauma gezogen werden könne, sagt Psychotherapeutin Noemi Friedli. «Es gibt bewundernswerte Geschichten von Menschen, die Kraft daraus ziehen. Das sind die seltensten Fälle, aber es gibt sie.»
Verdrängen kann erschöpfen
So wie Gaëlles Geschichte enden aber nur die wenigsten: Wird das Trauma nicht therapiert, können die Betroffenen abstürzen: «Es gibt Menschen, die nicht mehr zurückfinden, auch nicht ins Berufsleben. Sie beziehen eine IV-Rente, weil es zu viel Anstrengung kostet, den Alltag zu meistern», sagt Beraterin und Psychotherapeutin Noemi Friedli und vergleicht nochmals mit dem Ball der Erinnerung: Den Ball unter Wasser zu halten, kann zu viel Anstrengung kosten.
Man könne sich das so vorstellen: «Die Betroffenen scannen ständig ihre Umgebung nach neuen Gefahren. Das kann anstrengend sein und zu einer Erschöpfung führen. Die Betroffenen ziehen sich zurück, nehmen nicht mehr am sozialen Leben teil. Sie fallen in eine Depression oder betäuben die Anstrengung mit Alkohol oder Drogen.»
Schritt für Schritt zurückerobert
Seit Gaëlle offen von ihren Erfahrungen spricht, vertrauen sich ihr andere Betroffene an. Menschen, die zum ersten Mal über ihr Trauma sprechen: «Wenn es anderen hilft, meine Geschichte zu hören, wenn das zur Heilung beiträgt, dann bin ich happy.»
Vieles hat sich Gaëlle zurückerobert. Sie geht jede Woche an Konzerte und an verschiedene Festivals in ganz Europa. Aber in einem Zelt schlafen kann sie noch nicht. «In all den Jahren bin ich nie mehr in einem Zelt gewesen. Das möchte ich wieder lernen. Ich habe vor, es in einem Garten zu üben.»