Einsame Flusslandschaften und mystische Wälder im Jura, die altehrwürdigen Abteien Romainmôtier, Saint-Maurice und malerische Weinberge im Lavaux am Genfersee: Auf der Via Francigena folgt ein Highlight dem nächsten. Die Schweizer Etappe der Via Francigena beginnt im Waadtländer Jura und endet auf dem Grossen Sankt Bernhard-Pass.
Jedes Jahr mehr Pilger
Auf der Via Francigena sind die waschechten Pilger unterwegs: in Etappen oder am Stück nach Rom – auf jeden Fall zu Fuss. Pilgerwege wie der Jakobsweg nach Santiago de Compostela boomen.
Auf der Via Francigena wurden letztes Jahr in Bourg-Saint-Pierre 2000 Pilger gezählt. Es werden jedes Jahr mehr. In Italien soll die Via Francigena als UNESCO-Weltkulturerbe registriert werden.
Mit Ritualen zur Disziplin
In Baulmes am Rand der Via Francigena im Jura lebt Anne Deriaz. Einst christlich aufgewachsen, hat sie sich inzwischen ganz dem tibetischen Buddhismus verschrieben. In einem ehemaligen Ziegenstall hat sie einen kleinen buddhistischen Tempel eingerichtet.
Jeden Morgen führt die 80-Jährige ein tibetisch-buddhistisches Ritual durch: «Es wäscht den Geist, so wie wir unseren Körper waschen. Wir sollten nur die positiven Gedanken behalten.» Im Buddhismus habe sie Disziplin gelernt, fügt Anne Deriaz hinzu.
Auf die Frage, wie der Buddhismus ihr Leben verändert hat, antwortet Deriaz: «Wissen Sie, wir alle möchten glücklich sein. Und dies nicht erst im Paradies, sondern im Hier und Jetzt. Ich schätze kleine Momente, in denen ich glücklich bin, etwa in meinem Garten.» Dies wünscht sie auch Menschen auf dem Pilgerweg.
Kraftort Romainmôtier
Romainmôtier ist eine wichtige Station auf der Via Francigena. Die Abteikirche gehört zu den ältesten romanischen Kirchen der Schweiz. Romainmôtier gilt auch als bedeutender Kraftort. Ein Besuch in der Kirche soll eine wohltuend entspannende Wirkung haben. Andere berichten, sie spürten ein beunruhigendes Kribbeln.
Schwester Madeleine Chevalier hält sich täglich in der Kirche auf. Sie weiss um den Ruf von Romainmôtier als Kraftort. Mit einem schelmischen Gesichtsausdruck meint sie: «Einige sagen, es habe viel Energie im Boden der Kirche, weil er warm sei, aber das ist die Bodenheizung». Sie sagt: «Ich selbst habe genügend Energie, ich benötige keine zusätzliche Kraft.»
Chevalier gehört zur evangelisch-reformierten Gemeinschaft der Diakonissinnen von Saint-Loup und in Romainmôtier zu einer ökumenischen Gebetsgemeinschaft. Sie findet Kraft im Glauben und im Gebet: «Wissen Sie, hier wird seit dem Jahr 400 gebetet. Jeden Tag, immer. Das ist eine Kraft.»
Die Berichte über den Kraftort nimmt Chevalier durchaus ernst: «Es gibt Menschen, die sind empfänglich für diese Art von Energie und andere, wie ich, sind es nicht.» Eine Bekannte von ihr sei von Romainmôtier weggezogen, weil die Energien für sie zu stark gewesen sei.
Chevalier betreut auch Pilger auf der Durchreise. «Ich glaube, dass das Pilgern bei jedem etwas auslöst», sagt sie. «Gestern hatten wir einen Pilger, einen alten Mönch, der war sehr berührt hier zu sein.»