Die Abtei Saint-Maurice ist das älteste ununterbrochen bewohnte Kloster nördlich der Alpen. Es wurde im Jahr 515 gegründet. Das Kloster liegt unterhalb einer mächtigen Felswand in einer Talenge des Wallis.
Pilger können in der Klosterherberge übernachten und am Gebet der Augustiner Chorherren teilnehmen. Chorherr Thomas Rödder empfängt die Pilger gerne zum Frühstück im Kloster, bevor sie die nächste Tagesetappe anpacken.
Thomas Rödder ist Chefökonom und Tourismusminister der Abtei. Er stellt fest, dass sich das Pilgern im Lauf der Zeit verändert hat: «Ursprünglich haben sich die Menschen am Ende ihres Lebens auf eine Pilgerreise begeben. Reisen war im Mittelalter gefährlich und teuer.»
Vor der Abreise sei der Nachlass geregelt oder ein Testament geschrieben worden, für den Fall, dass man von der Pilgerreise nicht mehr heimkehrte. Früher sei das Ziel der Pilgerreise meist ein Wallfahrtsort oder das Grab von Heiligen gewesen.
Pilgern als Ego-Projekt
«Heute sind die Menschen mehr zu sich selbst unterwegs», beobachtet Thomas Rödder. Und ergänzt: «Es ist mehr eine Wallfahrt zum eigenen Ich, ein Ego-Projekt im positiven Sinn, weil man sich des eigenen Ichs bewusst wird. Man kann beim Pilgern neue Lebensperspektiven ausloten und planen.»
Nach der Ortschaft Bourg-Saint-Pierre ist die Passstrasse bis zum Grossen Sankt Bernhard ständiger Begleiter der Pilger. In Bourg-Saint-Bernhard verschwindet sie in einer lawinensicher überdachten Zufahrtsstrasse und dann im Tunnel des Grossen Sankt Bernhard.
Das letzte Wegstück bis zum Pass hinauf ist ruhiger. Nun führt der alte Säumerweg über Alpwiesen und an einem rauschenden Bergbach entlang. Die Umgebung wird felsiger, die Luft kühler.
Emotionale Pilgerweg-Etappe
Die Pilger erreichen auf dem Grossen Sankt Bernhard-Pass auf 2473 Metern über Meer den höchsten Punkt des Pilgerweges von Canterbury nach Rom. Sie haben eine wichtige Wegetappe geschafft. Die Ankunft auf dem Pass ist ein emotionaler Moment, ein erhebendes Gefühl.
In den wuchtigen Gebäuden des Hospizes betreuen Augustiner Chorherren Pilger und Reisende. Derzeit wohnen drei Angehörige der Ordensgemeinschaft auf dem Grossen Sankt Bernhard.
Chorherr Frédéric Gaillard erklärt: «Seit 1000 Jahren empfangen die Chorherren des Grossen Sankt Bernhard ihre Gäste. Und einige Laien helfen uns dabei. Seit dem Jahr 1045 bis zur heutigen Zeit, ununterbrochen.»
Die Klimapioniere vom Grossen Sankt Bernhard
Stolz zeigt Frédéric Gaillard die Wetterstation im Hospiz. Seit 200 Jahren sammeln die Chorherren jeden Tag Daten zum Wetter und zum Klima, eine einmalige Datensammlung im gesamten Alpenraum.
Die Chorherren leben das ganze Jahr über im Hospiz und bleiben selbst im Winter dort, wenn der Pass geschlossen ist. Dann kann es vorkommen, dass sie für einige Tage eingeschneit werden.
Früher mussten die Chorherren bei Wind und Wetter immer wieder Reisenden zu Hilfe kommen. Dabei konnten sie auf die Hilfe der berühmten Bernhardinerhunde zählen. Barry war der bekannteste von ihnen.
Heute leben die mächtigen Bernhardinerhunde nur mehr im Sommer auf dem Pass. Während der übrigen Zeit sind sie in Martigny zu Hause. Ihre Betreuung und Aufzucht liegt in den Händen der Barry-Stiftung.