In den Städten wird das Leben sozialer: Es entstehen immer wieder neue Plattformen des sozialen Austausches. Dafür sind in den Dörfern viele traditionelle Begegnungsräume verloren gegangen: Dorfläden sind verschwunden, mancher Postschalter wurde geschlossen.
Deshalb leidet in den Dörfern das soziale Miteinander zunehmend, erklärt Politikwissenschaftler Markus Freitag.
SRF: Es heisst, das Leben in der Stadt sei anonymer als auf dem Land. Dort sage man sich noch Grüezi. Inwiefern trifft das zu?
Markus Freitag: Vergleicht man Grossstädte mit ländlichen Agrargemeinden trifft dies sicher zu. Auf dem Land werden mitunter auch Wildfremde gegrüsst. Normen und Konventionen steuern hier das zwischenmenschliche Verhalten, ein Ausscheren kann mit Sanktionen bestraft werden.
Stadtluft dagegen macht freier. Jeder ist hier bis zu einem gewissen Grad fremd und nicht «Herr im Haus». Fragen Sie sich selbst einmal, wen Sie in Ihrer Strasse grüssen. Dann können Sie recht genau beantworten, in welcher Art Sozialgefüge Sie leben.
Wie hat sich das Schwarz-Weiss-Schema zwischen dem nahbaren Ländler und dem anonymen Städter über die Jahre verändert?
Unsere Studien zeigen, dass die Städter und Ländler noch immer recht unterschiedlich sind. Menschen in urbanen Gebieten sind im Vergleich zu denjenigen in ländlichen Regionen eher neugierig, kreativ und originell. Aber es gibt auch Landflüchtige, die in der Stadt unverbindliche Gemeinschaftlichkeit suchen.
Wer aufs Land zieht, möchte Ruhe geniessen, ein Haus im Grünen besitzen und das Gefühl haben, sein eigener Herr zu sein.
Landbewohner hingegen sind beharrlicher, bodenständiger und prinzipientreuer. Unter ihnen finden sich auch Stadtflüchtige: Wer aufs Land zieht, möchte Ruhe geniessen, ein Haus im Grünen besitzen und das Gefühl haben, sein eigener Herr zu sein. Aber oft entscheiden Bodenpreise und Verkehrsanbindung und nicht das Vereinsleben, wo man sich niederlässt.
Und wie hat sich das jeweilige Zusammenleben in der Stadt und auf dem Land verändert?
In den Dörfern leidet das soziale Miteinander zunehmend: Man wohnt zwar dort, ist aber mobiler als früher, arbeitet in der Stadt oder der Agglomeration. Man nimmt weniger am sozialen Leben im Dorf teil, wo es vielleicht nur noch ein überschaubares Angebot an Aktivitäten gibt, das die vielfältigen Interessen nicht trifft.
Die Stadt hat da Vorteile: Hier kann ich gesellig und anonym zugleich sein. Städter schaffen sich Geselligkeit oft in den dörflich anmutenden Quartieren – aber weniger verpflichtend als auf dem Land.
Die Stadt bietet im Idealfall beides: ländliche Geborgenheit mit der Option auf urbane Fremdheit.
Ausserhalb der selbst gewählten Kreise kann der Städter auch weiter anonym leben. Die Stadt bietet im Idealfall also beides: ländliche Geborgenheit mit der Option auf urbane Fremdheit.
Was steckt hinter diesen Entwicklungen?
In den Dörfern sind viele traditionelle Begegnungsräume verloren gegangen: Der Dorfladen ist verschwunden, der Postschalter wurde geschlossen. Die dörfliche Geselligkeit wandert deshalb oft in die nächste Stadt oder die strategisch geplanten Einkaufs- und Erlebniszentren ab.
Die Stadt lebt hingegen von einer dynamischen Ideenvielfalt. Es gibt immer wieder neue Plattformen des sozialen Austausches: Urban-Gardening-Initiativen zum Beispiel oder selbstverwaltete genossenschaftliche Projekte.
Dazu bleiben junge Familien vermehrt in der Stadt und werden zu einem wichtigen Motor des urbanen Gemeinsinns: Es entstehen Grünflächen, Orte der Kinderbetreuung, der Verkehr wird beruhigt. Dem Wert sozialer Beziehungen wird in der Stadt mehr Bedeutung beigemessen als früher.
Sie untersuchen die sozialen Beziehungen, den Zusammenhalt in der Gesellschaft, also das Sozialkapital – ein schwer fassbares Konzept. Wie misst man so etwas überhaupt angemessen?
Man fragt die Menschen nach der Art ihrer sozialen Einbindung und was sie daraus für Vorteile ziehen. Sei es im Verein, im Verwandten- Kollegen- und Freundeskreis oder auch in der Nachbarschaft.
Sie bezeichnen die Schweiz als ideales Forschungslabor. Weshalb?
Weil die Schweiz politisch, kulturell und sozioökonomisch unglaublich vielfältig ist. Und sie paart diese Vielfalt mit institutionellen Eigenheiten – etwa der direkten Demokratie, dem Föderalismus, der Konkordanz oder dem Milizsystem.
Grundsätzlich heisst es immer wieder, das zivilgesellschaftliche Engagement nehme ab – in Vereinen, aber auch in der Milizpolitik. Ein langfristiger Niedergang oder bloss ein Zwischentief?
Ich befürchte, es ist ein langfristiger Niedergang. Dies legen die Zahlen der letzten 20 Jahre nahe. Heute herrscht der Drang, sich selbst zu entfalten – die Menschen suchen Abwechslung und wollen ungebunden sein.
Heute herrscht der Drang, sich selbst zu entfalten – die Menschen suchen Abwechslung und wollen ungebunden sein.
Dies steht oft im Gegensatz zu dem, was im sozialen Umfeld gefragt ist: eine Bereitschaft zum Engagement und die damit verknüpften Verpflichtungen und Regelmässigkeiten.
Wie kann man dem entgegenwirken?
Langfristig muss die Bevölkerung sensibilisiert werden, dass ein zivilgesellschaftliches Engagement notwendig ist: durch das Elternhaus, über politische Bildung in der Schule bis hin zum Entgegenkommen des Arbeitgebers.
Organisationen und Behörden sollen sich nicht davor scheuen, direkt Leute anzusprechen und ihnen auch Mitsprache zu gewähren. Vor allem zeitlich befristete Vorhaben ohne allzu grosse Verbindlichkeit scheinen erfolgsversprechend. Einmal auf den Geschmack gekommen, erwächst aus der Einmaligkeit vielleicht auch ein länger andauerndes Engagement.
Was geschieht, wenn der Zusammenhalt in der Bevölkerung langfristig abnimmt?
Sozialkapital macht uns gescheiter, gesünder, sicherer, reicher und eine Demokratie gerechter und stabiler – das hat der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Putnam in seinen berühmten Analysen erkannt. Ohne den sozialen Zusammenhalt setzen wir diese Dinge aufs Spiel, die alle ihren Teil zu einer gut funktionierenden Gesellschaft beitragen.
Die Fragen stellte Benedikt Hofer. Das Interview wurde schriftlich geführt.