Lesedauer: 12 Minuten
In der Grossstadt findet das Leben statt. Davon war Céline Zöllig überzeugt. Heute sieht sie das anders. Was in Zürich geschieht, interessiert sie nicht mehr gross.
Vom Zürcher Kreis 4 ins Oberland
«Nach der Arbeit ging es jeweils direkt zum Apéro», erzählt die 35-Jährige lachend. Nun offeriert sie Kaffee aus einer Bialetti-Kaffeemaschine, der hinter ihrem Stall auf einer Herdplatte im Freien zubereitet wurde.
In ihren Zwanzigern lebte sie im Zürcher Ausgehviertel, dem Kreis 4. «Ich habe in einer WG nach der anderen gewohnt, kannte viele Leute, traf Freunde und Freunde von Freunden.» Sie habe diese Zeit genossen, sagt Zöllig.
«Wenn ich hier jemanden treffen will, muss ich ins Dorf.» Mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern wohnt sie in einem Bauernhaus etwas ausserhalb des Orts Fischenthal im Zürcher Oberland. Sie teilen sich den Platz mit zwei weiteren Wohnparteien und Hühnern. Auch diese Zeit geniesse sie, versichert Zöllig.
Ausflug nach Zürich: Stress statt Erlebnis
«Ich habe mir vorgestellt, wie die Kinder nahe der Natur aufwachsen. Das war entscheidend für unseren Umzug.» Aus einer Wintersaison in den Bergen ist für Zöllig ein Familienleben auf dem Lande geworden. Verliebt, Kinder, Bauernhaus. Und Auto.
Mit dem Kinderwagen ins Tram zu steigen, empfand sie jeweils als anstrengend. Ausflüge nach Zürich: mehr Stress als Erlebnis, berichtet sie. «Irgendwann wurde uns klar: Wir gehen nicht zurück in die Stadt.»
Die Städte haben aufgewertet
Diese Umzugsgeschichte passt ins landläufige Bild, wonach ländliche Gebiete kinderfreundlich sind und junge Familien anziehen. Statistisch gesprochen liegt dieses Zügelverhalten aber nicht im Trend.
Joëlle Zimmerli vom Büro Zimraum untersucht den Zusammenhang von Raum und Gesellschaft. Ihr Planungsbüro verfasst Studien zum Thema Raumplanung. «Die Zahlen jedenfalls deuten darauf hin, dass sich immer mehr Familien in den Städten wohlfühlen», sagt die Soziologin.
In den 1960er- bis 1980er-Jahren wollten junge Familien aufs Land. Heute werden wieder mehr Kinder in den Städten geboren, mehr Familien bleiben. «Denn die Städte haben aufgewertet. Es gibt Grünräume, verkehrsberuhigte Quartiere und Betreuungsmöglichkeiten», erklärt Zimmerli.
Natürlich sagt man «Grüezi»
Anfangs sei es schwierig gewesen, das Dorfleben. «Man muss sich überall vorstellen. Jeder weiss: du bist die Neue», berichtet Céline Zöllig, die neben ihren Aufgaben als Mutter noch als freischaffende Web-Gestalterin tätig ist.
«Die Fischenthaler haben uns aber sehr gut aufgenommen. Sie sind eigentlich immer freundlich – das ist bemerkenswert. Und natürlich sagt man ‹Grüezi›. Auch wenn man sich nicht mit Namen kennt, weiss man genau: Der da wohnt dort oben.»
Freundlich und hilfsbereit. Die zweifache Mutter bestätigt das Klischee des nahbaren Menschen vom Land. Und sie stellt mit ihrer Geschichte gleichzeitig das Vorurteil zur Debatte, wonach Ländler nicht offen seien gegenüber Fremden.
Den typischen Ländler und Städter gibt es nicht
Politgeograf Michael Hermann von der Forschungsstelle Sotomo sagt: «Der typische Ländler und Städter existiert allen voran in unseren Köpfen, wo sie als Bilder einander gegenübergestellt werden. Die tatsächlich beobachteten Lebens- und Verhaltensweisen lassen sich nicht scharf voneinander trennen.»
Wo sich ein Stadt-Land-Gegensatz aber empirisch offenbart, ist an der Urne. Wenn es um Migration, Aussenpolitik und Ökologie geht, stimmen ländliche Gebiete rechts-konservativer als die links-liberalen Grossstädte. Der sogenannte «Güllengraben» tut sich auf.
«Die Kategorien Stadt und Land helfen uns, die politische Schweiz zu verstehen», sagt Hermann. Darüber hinaus würden aber häufig Stereotypen reproduziert, die so beispielsweise auch in den Heidi-Romanen nachzulesen sind: Städterinnen und Städter wollen sich nicht dreckig machen etwa.
Die Agglomeration als das Dazwischen
Beobachtete Unterschiede in der Lebensart müssen differenziert beurteilt werden, so Zimmerli. «Versuchen Sie mal, in der Stadt jeden mit ‹Grüezi› zu grüssen – da würden Sie nicht mehr aufhören.» Der persönliche Lebensraum gebe vor, welche Handlungsmöglichkeiten sich einem überhaupt bieten, sagt die Wohnsoziologin.
Zudem müsse ohnehin das Dazwischen, die «Agglomeration», als Kategorie eingeführt werden, wenn man sozialwissenschaftlich vernünftig arbeiten möchte, sagt Zimmerli.
Die Agglo ist kein Dorf aber auch keine Kernstadt. Die räumlichen Strukturen und sozialen Milieus sind eigen. Zudem wächst sie und wird wichtiger. Wer hierzulande verstehen will, wie und ob sich Raum und Mensch beeinflussen, muss die Agglo berücksichtigen.
Den Grillen lauschen
Der ländliche Lebensraum jedenfalls hat Céline Zöllig verändert. Sie fühle sich anders, seit sie auf dem Land lebe: «Hier draussen bin ich näher bei mir selber – nicht ständig abgelenkt von Konsum.»
Mittlerweile fühle sie sich in der Stadt nicht mehr lange wohl, es sei ihr zu eng, zu laut, sagt Zöllig. Sie bestaune abends lieber den Sternenhimmel und lausche den Grillen, die sich um ihr Haus tummeln.
Nach 40 Jahren zurück in die Stadt
Auch Werner Dubno ist umgezogen. Einst wuchs er im Stadtzürcher Kreis 4 auf, als dieser noch ein Arbeiterquartier war. Er und seine Frau lebten in frühen Jahren in Hongkong und Paris. Und wie die Zölligs zog es sie mit den Kindern aufs Land – für rund 40 Jahre. Als Ländler fühlt sich Werner Dubno dennoch nicht.
«Weit umherziehen tun wenige», sagt Wohnforscherin Zimmerli. «Die meisten Menschen bleiben ein Leben lang in derselben Gegend – ausser Job oder Ausbildung zieht sie fort.»
Die Stadt stiftet Lebensqualität
Nicht so Dubno. Nach Auslandjahren und Dekaden des Landlebens zogen er und seine Frau vor wenigen Jahren wieder in die Stadt Zürich. In ein Haus am Lindenhof, einem Park in der Altstadt, in eine pittoreske Gegend etwas ab der pulsierenden Bahnhofstrasse.
«Wir haben Lust auf Kino, wenige Minuten später sitzen wir im Saal.» Auch zuvor fuhr er wegen der Arbeit, Konzerten oder dem Flohmarkt regelmässig an die Limmat. Nun gehe aber vieles spontaner. «Die Stadt stiftet Lebensqualität, wie sie das Land nicht bieten kann.» Das Dorf habe andere Vorteile.
«Wir wollten immer zurück in die Stadt»
Mit bald 75 Jahren zieht sich Werner Dubno langsam aus dem eigenen Textil-Unternehmen zurück. Wenn der fünffache Vater und zwölffache Grossvater durch die Gassen der Altstadt schlendert, wirkt er zufrieden. Es gäbe viele gute Restaurants hier. Und einkaufen könne er auch zu Fuss.
«Der Umzug war nicht emotional. Ich sehe das wie ein Hockey-Match mit drei Dritteln», meint Dubno. «Das letzte Drittel unseres Lebens wollten wir wieder hier verbringen. In der Stadt. Das haben wir uns immer gewünscht.» Der Mann lacht.
Ältere bleiben im grossen Haus im Grünen
Wie bereits der Umzug von Céline Zöllig sei auch der Fall Dubno, statistisch gesprochen, kein typischer Umzug, sagt Joëlle Zimmerli: «Netto wandern ältere Menschen seit Jahren aus den Grossstädten ab.»
Man müsse nicht in der Stadt wohnen, um von den Zentrumsleistungen zu profitieren. Die urbane Infrastruktur sei für viele Auswärtige mittlerweile gut angebunden, so Zimmerli. «Viele ältere Personen bleiben gerne in ihrem grossen Haus im Grünen, nahe, aber ausserhalb der Stadt – auch wenn die Kinder ausgeflogen sind.»
Was soll das Land, was soll die Stadt?
«Was mich manchmal stört, sind die nächtlichen Saufgelage», sagt Werner Dubno. Er lebt jetzt da, wo sich andere vergnügen.
Raumplanerin Zimmerli sagt: «Es macht Sinn, dass Stadt und Land gewisse Funktionen für die Allgemeinheit erfüllen.» Salopp ausgedrückt heisst das: Natur, Landwirtschaft, Erholung aufs Land. Bildung, Kultur und eben Nachtleben in die Stadt.
Sachpolitische Streitereien
Solche Erwartungshaltungen an Stadt und Land führen immer wieder zu Interessenkonflikten. Wie dann, wenn Auswärtige vor Werner Dubnos Fenstern Polterabend feiern wollen. Oder beispielsweise auch dann, wenn Unterländer den Berglern per Abstimmungen verbieten wollen, Zweitwohnungen zu bauen.
Die Schweiz kennt so manche Beispiele sachpolitischer Streitereien, wenn es darum geht, was Stadt und was Land bieten soll.
«Alles in allem steht es aber in der Schweiz ziemlich gut um die Solidarität zwischen den Regionen», relativiert Michael Hermann. «Wichtig ist der gegenseitige Respekt und das Bewusstsein dafür, dass unterschiedliche Perspektiven bestehen.»
«In der Stadt zieht die ganze Welt an mir vorbei»
Trotz Interessenkonflikten mit Saufbolden, Werner Dubno schätzt das städtische Getümmel. Und auch er geht gerne in den Ausgang: «Die Stadt ist voller Reize. Ich lebe hier einen schnelleren Rhythmus. Auf dem Land war das anders. Abends sitzt man da noch im Garten.»
Werner Dubno blickt aus seinem Fenster in die sonnendurchflutete Gasse. «Hier in Zürich habe ich manchmal das Gefühl, ein Teil der Welt zieht an mir vorbei.» Das geniesse er. Es sei ein sinnliches Erlebnis, den Menschenströmen zuzuschauen.
«Ich war ein Gast auf dem Land», resümiert der Stadtzürcher.
Umziehen in die Stadt ist ein Privileg
Er konnte wählen zwischen Stadt und Land. Es zog ihn zurück in seine Heimat – und zwar in die Kernstadt. Ein Privileg, wie Dubno sagt.
«Es ist zunehmend eine Frage des Preises und der finanziellen Ressourcen, wo wer überhaupt wohnen kann», sagt Michael Hermann. «Die Zentren sind wieder attraktiv. Die Mietpreise steigen und steigen.»
«In gewissen Regionen bestehen Verdrängungseffekte, je nach Immobilienmarkt», bestätigt Joëlle Zimmerli. Eine Umzugsgeschichte wie die von Werner Dubno ist also nicht allen Menschen vergönnt.
Das Dorf wird zum Schlafdorf
Damals im Dorf lebten die Dubnos gerne für sich. «Um ehrlich zu sein, wir haben den Kontakt zu anderen auch nicht gross gesucht.» So halten es mittlerweile viele, die in ländlichen Gegenden leben.
«Der soziale Zusammenhalt auf dem Lande erodiert», sagt Michael Hermann. Vermehrt ziehen Menschen aufs Land, um dort primär einmal zu wohnen – sogenannte Schlafdörfer entstehen.
Dorfverein, nein danke!
Fachleute sagen, der Gemeinsinn auf dem Dorf sei zwar noch grösser als in der Stadt. Doch das zivilgesellschaftliche Engagement geht zurück: Dorfvereine verlieren Mitglieder, Kleinstgemeinden suchen Milizpolitiker.
«Wenn dieser gesellschaftliche Kitt schwindet, ist dies besonders für die Lebensqualität auf dem Lande schädlich», mahnt Hermann. «Ein Dorf muss zusammenhalten, um Projekte realisieren zu können.» In den Städten liessen sich oft genügend Leute für ein Anliegen finden.
Die zweifache Mutter Céline Zöllig, die von der Stadt aufs Land zog, engagiert sich in ihrem neuen Zuhause Fischenthal. Sie ist dem Familienverein beigetreten. Einmal in der Woche treffen sie und ihre Kinder andere Familien. Zöllig hilft mit, das Dorf zusammenzuhalten.
Städter feiern das Dörfliche
In der Stadt nehme der Gemeinschaftssinn indes zu, werde quasi «ländlicher», sagt Zimmerli. «Derzeit sind Wohnsiedlungen trendy, die angeben, das Dorf in der Stadt zu sein. Städter feiern das Dörfliche geradezu.» Die kurzen Wege zwischen Wohnen, Arbeit und Freizeit würden dieses Lebensgefühl ermöglichen.
Werner Dubno steht vor seiner Haustür in der Zürcher Altstadt. Für ihn liegt nun ebenfalls vieles nahe. Und auch die Nachbarn kennt er mittlerweile: «Hier im Quartier sagt man sich übrigens auch Grüezi.»