Während drei Tagen bis zwei Wochen ziehen sich Menschen aus dem Alltag zurück, folgen einem klaren Tagesablauf und meditieren viele Stunden pro Tag. Im Berner Oberland auf dem Beatenberg bieten Lehrende wie Fred von Allmen sogenannte Vipassana-Retreats an. «Die unnatürliche Situation der Stille und die Struktur helfen, dass sich unser Geist wirklich mit sich selbst auseinandersetzen kann und weniger Fluchtwege hat», erklärt der Meditationslehrer.
In der buddhistischen Meditationsszene der Schweiz ist Fred von Allmen so etwas wie ein Urgestein: Ab 1974 organisierte er erste Meditationskurse mit und begann später selbst, Vipassana und andere Meditationsarten zu lehren.
Bereits als Kind suchte er nach Freiheit, lebte später als freischaffender Fotograf. Er kam mit wenig Geld aus, reiste viel und weit per Autostopp. Ende der 1960er-Jahre machte er erste Erfahrungen mit LSD. Das erschütterte seine bisherige Weltsicht, denn: «Ich erkannte, dass es auch eine innere Freiheit gibt.»
Die fand er im Alltag aber nicht so schnell, wie es mit psychedelischen Substanzen möglich war. «Leider oder zum Glück», sagt der 81-Jährige heute schmunzelnd. Seiner damaligen Freundin, die ihn verlassen wollte, folgte er auf dem Hippie-Trail nach Indien und lernte in den Wäldern von Dharamsala den tibetisch-buddhistischen Lehrer Lama Gesche Rabten kennen. Dieser wurde später, auf Geheiss des 14. Dalai Lama, Abt im Schweizer Kloster Rikon. Bei ihm meditierte von Allmen. Inzwischen praktiziert er seit mehr als 50 Jahren: «Der Weg der Befreiung ist eben eine lebenslange Praxis.»
Schweigen allein reicht nicht aus
In Vipassana-Retreats wird schweigend meditiert. Das Ziel: Eigene Gedanken und Gefühle bewusster wahrnehmen und erkennen, wie und warum wir etwas angenehm oder unangenehm bewerten, uns damit selbst einschränken und Leid schaffen. Es geht darum, wie wir uns von diesem Leid befreien können, um gelassener und zufriedener zu werden.
Das Schweigen hat also keinen Wert an sich, sondern ist Mittel zum Zweck. Für manche sei es zu Beginn zwar ungewohnt und komisch. «Aber still werden ist wirklich nichts Grosses, obwohl so viel darüber geredet wird», betont Fred von Allmen.
Hinzu kommt: Während eines Retreats schweigt man nicht die ganze Zeit, zumindest auf dem Beatenberg nicht. Andernorts ist das anders.
Hier aber gibt es Einzel- oder Gruppengespräche, um etwa über die buddhistische Philosophie, persönliche Schwierigkeiten oder Lebensfragen zu sprechen und Erfahrungen der Meditationspraxis auszutauschen.
Bei uns gibt es keine ‹Meditationspolizei›.
Nebst dem Schweigen sollen keine Bücher gelesen werden und es soll auf das Handy oder andere elektronische Medien verzichtet werden. Nicht mal Tagebuchschreiben sei empfohlen. Ist das nicht sehr streng? Von Allmen verneint. Wer erlebt habe, welche Tiefe solch eine Struktur ermögliche, könne sich gut darauf einlassen. «Aber wir haben keine ‹Meditationspolizei›» witzelt er, «manchmal gehen die Leute im Wald telefonieren oder machen statt einer Gehmeditation eine Teemeditation».
Wer macht Vipassana?
Auf den Beatenberg kommen junge und alte Menschen, oftmals aus sozialen Arbeitsbereichen und vorwiegend Frauen. So auch Sarah Genner: Seit 15 Jahren kommt die Dozentin und selbstständige Digitalexpertin auf den Beatenberg.
Ich geniesse es immer noch, mit Menschen zu sein, ohne mit ihnen interagieren zu müssen.
Die 42-Jährige erinnert sich an ihren ersten Kurs: «Ich fand es spannend, mal nicht zu reden und war überrascht, wie gut das ging. Viel radikaler fand ich, das Handy auszuschalten.» Doch auch daran hat sie sich unterdessen gewöhnt. Bei Bekannten würde die unfreiwillige digitale Auszeit nach wie vor grosses Erstaunen auslösen.
Dominique Strebel ist Chefredaktor beim «Beobachter» und schätzt das Schweigen: Sein erstes Retreat machte er 1999 bei Fred von Allmen, gleich 14 Tage lang. «Danach wollte ich gar nicht mehr sprechen, um den schönen Zustand nicht zu zerstören», schmunzelt der 58-Jährige. «Ich geniesse es immer noch mit Menschen zu sein, ohne mit ihnen interagieren zu müssen. So erlebe ich Gemeinschaft und kann trotzdem für mich sein.»
Auch Simone Buchmüller meditiert seit vielen Jahren. Sie ist Sozialarbeiterin, Supervisorin und Achtsamkeitslehrerin. Dass zwischen Reiz und Reaktion ein Raum liege und sie nicht sofort auf Dinge reagieren müsse, habe die 47-jährige durch MBSR und Meditation gelernt. «Diesen Handlungsspielraum lerne ich mit Vipassana und der Auseinandersetzung mit mir selbst immer besser kennen.»
Vom Meditationskissen in den Alltag
Dem Meditieren verdankt Buchmüller zudem die Erkenntnis, dass ihr Handeln Einfluss habe. «Das wirklich zu verstehen, in aller Konsequenz, kann erschüttern.» Darum rät die Sozialarbeiterin nur jenen zum Retreat, die psychisch stabil seien. Aber sie nehme auch viel Positives mit für ihre Arbeit mit jungen Menschen oder wenn sie Krebspatientinnen und Krebspatienten psychoonkologisch begleitet. «Das berührt sehr, wenn man selbst etwas erkennt und weitergeben kann.»
Auch Dominique Strebel lässt seine Vipassana-Praxis in den Alltag einfliessen: «Es geht nicht darum, mit den Mitarbeitenden Meditationen durchzuführen.» Vielmehr wolle er Werte vorleben, die ihm wichtig seien. Als Beispiel nennt er die gesamtmenschlichen Potenziale seiner Mitarbeitenden: «Um diese zu erkennen, muss ich wirklich wahrnehmen, wer meine Kolleginnen und Kollegen sind.» Das erfordere viel Achtsamkeit. «Wenn ich ihnen gegenüber dann Wertschätzung ausdrücke oder Ansprüche stelle, möchte ich das so tun, dass sie ihre Potenziale entfalten und einbringen können.»
Alles verändert sich
Zwar führe Meditation nicht automatisch dazu, ein besserer Mensch zu sein, gibt Sarah Genner zu bedenken, aber: «Ich glaube, das grosse Ziel ist schon, dass wir uns im Zusammenleben mit anderen Menschen ethisch verhalten und versuchen, wertschätzende Persönlichkeiten zu sein, die aufs Alter hin ein bisschen weiser werden.» Sodass man zum Beispiel besser damit umgehen könne, dass alles vergänglich ist und wir eines Tages sterben werden.
«Klar, es gibt unterschiedliche Wege, damit umzugehen. Meditation ist wohl nicht für alle der passende Weg.» Ihr persönlich helfe es jedoch, ihre Sinneswahrnehmungen zu schärfen und «Unangenehmes anzunehmen und Angenehmes loszulassen».
Das sei keinesfalls paradox, erklärt Simone Buchmüller. Es bringe nichts, sich ans Angenehme zu klammern. Da könne man nur enttäuscht werden, weil sich alles bedingungslos wandle. Das bedeute aber auch, dass das Unangenehme sich verändere. «Das ist für mich sehr tröstlich und heilsam.»
Und wie frei und gelassen fühlt sich Fred von Allmen? Er erzählt von seinem Portemonnaie, das er kürzlich liegen liess, mit all den Karten und dem Geld: «Es war wirklich easy, obschon ich noch Wochen damit beschäftigt bin und es mich auch viel kostet.»