Zweimal klingelt das Telefon, dann meldet sich Anja Hernandez: «Ja, hallo?» Und schon muss ich mein erstes Vorurteil revidieren. In meiner Vorstellung haben Obdachlose nämlich kein Smartphone. Doch Anja teilt sich eines mit ihrem Partner. Wir verabreden uns im Zürcher Stadtzentrum.
Bei angenehm warmem Winterwetter setzen wir uns auf dem Sechseläutenplatz auf zwei Stühle und Anja Hernandez erzählt, wie ihr Alltag aussieht. Die Nacht verbringt sie im «Pfuusbus» der Stiftung Sozialwerke Sieber, einer privat bezahlten Notschlafstelle. «Das ist ein bisschen wie im Klassenlager», sagt sie mit einem Augenzwinkern.
Seit neustem gibt’s im «Pfuusbus» Kajütenbetten statt Matratzen auf dem Boden, dazu WCs und Duschen. «Es ist nicht luxuriös, aber ich bin froh, ein warmes Bett zu haben», erklärt Hernandez.
Beklagen will sie sich nicht, dennoch vermisst die Obdachlose ein eigenes Zuhause. Sie sehnt sich danach, sich zurückziehen zu können und wieder mal auszuschlafen: «Erst, seit ich kein Zuhause mehr habe, merke ich, wie stark es mir fehlt.»
Irgendwie den Tag rumkriegen
Um 9 Uhr müssen die Obdachlosen die Notschlafstelle verlassen. Dann geht es primär darum, den Tag hinter sich zu bringen. Bei schönem Wetter im botanischen Garten, bei schlechtem in einem der Cafés für Obdachlose, dazwischen auch immer wieder draussen. Auf den Strassen gilt es Geld zu besorgen.
«Es hat sich gezeigt, dass ich im Betteln gut bin», sagt Hernandez. Normalerweise passt ihr Freund auf. Er warnt sie, wenn die Polizei kommt.
Doch zurzeit sitzt der Freund in U-Haft. Wegen unbezahlter Zugtickets, wie Hernandez erklärt. Sie macht kein Geheimnis daraus, dass er «wegen Einbrüchen» schon früher im Gefängnis sass.
Das Leben auf der Strasse ist für Hernandez neu. Sie ist erst seit Dezember 2021 obdachlos. Ihr Freund hatte eine Wohnung organisiert, doch im letzten Moment zog sich der Vermieter, ein Bekannter, zurück. So stand das Paar ohne Bleibe da.
Es war der Tiefpunkt einer Abwärtsspirale, die schon früher begonnen hatte. Zum einen mit Alkoholproblemen nach der Trennung von ihrem Mann, zum anderen mit gesundheitlichen Problemen. Diese führten dazu, dass sie im Gastrobereich keine Arbeit mehr fand, trotz abgeschlossener Ausbildung im Hotelfach.
Wie wird man obdachlos?
Anjas Geschichte sei typisch für viele Obdachlose, sagt Jörg Dittmann, Professor an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Er hat soeben die erste landesweite Studie zur Obdachlosigkeit in der Schweiz abgeschlossen.
Obdachlos werden sei ein Prozess, der einer Abwärtsspirale gleiche, erklärt er. «Am Anfang steht die Armut. Dann kommen weitere Probleme hinzu: mangelnde Unterstützung durch die Familie, gesundheitliche und psychische Probleme oder Sucht.»
Wenn all dies zusammenfliesse, könne es zu einer Kündigung der Wohnung kommen. «Dann eskaliert die Situation», so Dittmann.
Vermeintlicher Befreiungsschlag
Meist leben die Betroffenen schon in prekären Wohnverhältnissen, bevor sie obdachlos werden. Schlafen mal bei einem Bekannten auf dem Sofa, haben kurz ein WG-Zimmer oder ein Bett in einer betreuten Einrichtung. Oft wissen sie nicht, wo sie die nächste Nacht verbringen.
«Für viele Betroffene ist es eine Art Befreiungsschlag, wenn sie obdachlos werden», sagt Dittmann. «Sie müssen sich erst mal um nichts mehr zu kümmern. Dann aber wird vielen schnell klar, wie abhängig sie von Institutionen und Hilfsangeboten sind.» Und wie beschwerlich das Leben auf der Strasse sei.
Trotz der hohen Arbeitslosigkeit unter Obdachlosen sind nur gerade 11 Prozent bei der Sozialhilfe gemeldet. Professor Dittman erklärt dies mit dem Stigma, das noch immer mit der Sozialhilfe verbunden wird: «Die Menschen wollen nicht von der Sozialhilfe abhängig sein, sie ist Ausdruck des Scheiterns.»
Hinzu komme, dass die Sozialhilfe auf den Wiedereinstieg ins Erwerbsleben ausgerichtet sei. Bei Obdachlosen stehe jedoch nicht die Arbeit im Zentrum, sondern das Wohnen.
Grossteil der Obdachlose ohne Papiere
Ein weiterer, gewichtiger Grund für die Skepsis gegenüber dem Staat ist der Aufenthaltsstatus. Vier von fünf Obdachlosen haben keinen Schweizer Pass. 61 Prozent sind Sans-Papiers. Dieser hohe Anteil hat selbst Studienleiter Dittmann erstaunt.
«Viele kommen bereits mittellos ins Land und riskieren, dass sie keine Wohnung finden», so der Experte. «Zu Beginn haben sie vielleicht einen Job und die Möglichkeit, bei Bekannten unterzukommen.» Diese Situation sei jedoch sehr fragil.
Besonders viele obdachlose Sans-Papiers leben in Genf und Lausanne, etwas weniger in Zürich. Das liegt am sozialen Netzwerk, das die Sans-Papiers in diesen Städten vorfinden, aber auch an der Sprache: «Viele Sans-Papiers in der Westschweiz kommen aus dem Maghreb», so Dittmann. Zudem ist in der Romandie der Zugang zu den Notschlafstellen niederschwelliger.
Die Wichtigkeit der Zivilgesellschaft
Der hohe Anteil an Sans-Papiers erklärt die Vorsicht der Obdachlosen, sich auf die staatlichen Hilfsangebote einzulassen. Hinzu kommt die bereits angesprochene Skepsis von Obdachlosen mit Papieren gegenüber dem Sozialstaat, den die Studie klar aufzeigt. Wegen dieser Zurückhaltung seien zivilgesellschaftliche Hilfsangebote wie der erwähnte Pfuusbus zentral.
«Die Betroffenen brauchen diese Einrichtungen dringend. Gäbe es sie nicht, wäre die Überlebenshilfe stark eingeschränkt», so Dittmann. Die zivilgesellschaftlichen Angebote reichen von grossen Stiftungen wie den Sozialwerken Pfarrer Sieber in Zürich mit Notschlafstellen, Cafés, aufsuchender Sozialarbeit, Spital und Wohnsiedlungen über Gassenküchen bis hin zu kleinen NGOs mit wenigen Mitarbeitenden, die sich etwa um obdachlose Jugendliche kümmern.
«Gerade die grösseren Akteure sind oft vom Kanton oder der Gemeinde subventioniert. Staatliche und nichtstaatliche Hilfe laufen also ineinander», sagt Dittmann.
Der steinige Weg aus der Obdachlosigkeit
In der hiesigen Armutsbekämpfung verfüge man über ein gut aufgestelltes, mehrdimensionales Sozialmodell, bilanziert Dittmann. Dabei sei auch das Wohnen ein wichtiger Aspekt.
Dieses System sei einer der Gründe, weshalb die Anzahl der Obdachlosen in der Schweiz geringer ist als im benachbarten Ausland. Trotzdem sieht der Experte Handlungsbedarf. Denn der Weg aus der Obdachlosigkeit ist steinig und beschwerlich.
Das beobachtet auch Adrian Klaus, Leiter der Gassenküche in Luzern. Zwar gebe es Angebote, um die Obdachlosen von der Strasse zu holen, etwa mit institutionellem Wohnraum. «Aber der Einstieg in den freien Wohnungsmarkt bleibt den meisten ehemaligen Obdachlosen versperrt.»
Es mag also gelingen, Obdachlose in betreuten Einrichtungen oder in Sozialwohnungen unterzubringen. Doch die allerwenigsten schaffen es, im freien und überhitzen Wohnungsmarkt eine Wohnung zu finden. So führt der Weg meist in prekäre Wohnsituationen und letztlich wieder auf die Strasse.
«Housing First» als Lösung?
Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, brauche es verschiedene Massnahmen, sagt Sozialwissenschaftler Jörg Dittmann. Mehr aufsuchende Sozialhilfe etwa, um Vertrauen aufzubauen, oder ein nationales Monitoring. Am brisantesten ist jedoch der Vorschlag, allen Obdachlosen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, ohne Bedingungen und ohne zu viele Fragen zu stellen.
«Der Druck der Strasse und die Eigendynamik an Problemen, die sie erzeugt, verschwindet, wenn man einen Rückzugsort hat, an dem man sich aufwärmen kann und wo man sich sicher fühlt», erklärt Dittmann.
Es liege daher auf der Hand, dass man erst einmal Wohnraum für Obdachlose schaffen müsse. Dieser solle allen Obdachlosen zugänglich sein, fordert er, unabhängig vom Aufenthaltsstatus.
«Housing First» nennt man diesen Ansatz, der Obdachlosen nicht nur eine dauerhafte Wohnung zur Verfügung stellt, sondern auch Begleitung und Beratung. In Finnland wurde er bereits ausprobiert. Es gelang, die Strassenobdachlosigkeit mehr oder weniger zu eliminieren.
In Wien sind die Erfahrungen ebenfalls positiv. Seit 2020 läuft auch in Basel ein Versuch auf kleiner Stufe. Die Heilsarmee vermittelt in Zusammenarbeit mit der Sozialhilfe Wohnungen, bezahlt wird das dreijährige Pilotprojekt vom Kanton.
Politische Diskussion noch am Anfang
Politisch ist dieser Ansatz jedoch umstritten. «Ich halte wenig von Housing-First», erklärt etwa der Basler SVP-Grossrat Joel Thüring. Ihn stört vor allem der bedingungslose Zugang zu den Wohnungen. «Wer vom Staat etwas will, muss auch etwas liefern.»
Wohnungen für Sans-Papiers kommen für den SVP-Parlamentarier schon gar nicht in Frage.«Personen ohne geregelten Aufenthaltsstatus muss man nicht helfen», findet er.
«Das verkennt die Realität», hält Oliver Bolliger, Grossrat der linksalternativen Partei BastA! entgegen. «Viele Obdachlose sind gar nicht in der Lage, Bedingungen zu erfüllen und Vorleistungen zu erbringen.» Gebe es den niederschwelligen Zugang zu Wohnung nicht, blieben sie obdachlos.
Bolliger steht deshalb hinter dem Pilotprojekt in Basel und hat im Kantonsparlament einen Vorstoss für ein Stadthotel eingebracht. Dieses soll zusätzlichen Wohnraum für Obdachlose schaffen. Wie das Basler Pilotprojekt gezeigt hat, ist es nämlich nicht ganz einfach, Wohnungen zu finden, die Obdachlosen zur Verfügung gestellt werden können.
Sogwirkung oder Erfolgsrezept?
SVP-Politiker Thüring befürchtet eine Sogwirkung, wenn Basel Obdachlosen niederschwellig Wohnungen zur Verfügung stellt. Bolliger findet das Argument «absurd». «Die Idee, dass ein Obdachloser aus Zürich sich plötzlich in Basel für eine Housing First-Wohnung anmeldet, ist illusorisch.»
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Bisher gab es in der Schweiz noch kaum politische Debatten über «Housing First»-Projekte. Das Basler Pilotprojekt wurde im Parlament nicht besprochen. Im Zürcher Stadtparlament ist ein Vorstoss der Alternativen Liste hängig. Realistisch dürften «Housing First»-Projekte nur in linksgrün geprägten Städten sein.
Für Anja Hernandez käme ein solches Projekt sowieso zu spät. Die Obdachlose will so schnell wie möglich weg von der Strasse und hofft auf ein Zimmer im «Suneboge», einer Arbeits- und Wohneinrichtung der Sieber Stiftung.
Erste Gespräche sind schon geführt. Anja Hernandez freut sich nicht nur auf das Zimmer als Rückzugsort, sondern auch auf die Arbeit: «Ich finde, jeder Mensch braucht eine gewisse Tagesstruktur», erklärt sie. Es sei schön, wenn man abends sehe, was man tagsüber getan habe.