Durch die Pandemie hat sich die Situation von Obdachlosen weltweit verschlechtert. Hier setzen verschiedene architektonische Projekte an. Die Idee dahinter: Eine geeignete Unterkunft trägt dazu bei, Obdachlose wieder in die Gesellschaft einzugliedern.
Der Architekturhistoriker Andres Lepik hat in München eine Ausstellung zum Thema Obdachlosigkeit mitgestaltet und ein Buch dazu herausgegeben. Im Gespräch erklärt er, weshalb die Architektur nicht nur Wohnraum schaffen, sondern auch dabei helfen kann, Vorurteile abzubauen.
SRF: Sind Architektinnen und Architekten eigentlich an der Obdachlosigkeit mitschuldig? Schliesslich entwerfen sie prächtige Gebäude, wodurch Leute aus ihren Wohnungen vertrieben werden. Damit verschärfen sie die Gentrifizierung.
Andres Lepnik: Obdachlosigkeit wird durch politische und soziale Phänomene erzeugt. Architekten sind in erster Linie Dienstleister für Auftraggeber im privaten oder öffentlichen Bereich. Sie können sich aber um Fragen kümmern, die ausserhalb ihres eigentlichen Auftragsbereiches liegen.
Solche Architektinnen und Architekten erkennen die weitere ethische Verantwortung ihrer Profession und versuchen, mit ihren Mitteln etwas gegen soziale Missstände zu bewirken. Erst recht, wenn Sozialverbände und Politik keine griffigen Massnahmen finden, die steigende Obdachlosigkeit zu bekämpfen.
Was kann die Architektur denn gegen die Obdachlosigkeit tun?
Die Architektur ist immer auch ein Katalysator für gesellschaftliche Prozesse. Es geht darum, flexibler mit bestehenden Räumen umzugehen und dort viele Gesellschaftskreise zusammenzubringen. Es ist wichtig, dass die Architektur neue Anregungen für räumliche Lösungen liefert. So kann sie gemeinsam mit Hilfsverbänden Wohnformen für Obdachlose zu entwickeln. Damit können sich für Betroffene Wege zurück in die Gesellschaft auftun.
Das humanitäre Drama vor unseren Haustüren hat die Architektur weder in Forschung noch Lehre aufgegriffen.
Ist die Obdachlosigkeit im Architekturstudium überhaupt ein Thema?
Viele Architekturschulen beschäftigen sich mit der Situation in den Favelas und Slums, der sogenannten informellen Architektur. Oft wird geforscht, was man von dieser lernen kann. Bloss: Das humanitäre Drama vor unseren eigenen Haustüren hat die Architektur weder in der Forschung noch der Lehre aufgegriffen. Da gibt es ein grosses Defizit.
Mit ihrer Ausstellung und ihrem Buch legen Sie den Finger auf einen wunden Punkt und zeigen interessante Wohnmöglichkeiten für Obdachlose. Wie sehen diese aus?
Einer der ehrgeizigsten Versuche, Obdachlose unterzubringen, ist das Projekt «Star Apartements» in Los Angeles. Der Architekt Michael Maltzan hat im Stadtviertel Skid Row, wo schätzungsweise 8000 Obdachlose leben, 102 Wohnappartements wie Klötze auf einer Geschäftspassage aufeinandergestapelt.
Die Obdachlosen können in die Anonymität ihrer Unterkunft eintreten, ohne ghettoisiert zu werden.
Das sieht nicht nur elegant aus, aussergewöhnlich ist auch, dass die Obdachlosen so nicht an den Rand der Stadt abgeschoben und von ihren sozialen Kontakten entfernt werden. Stattdessen befindet sich die Unterkunft zentral in der Stadt, wo sich die Obdachlosen aufhalten. So können in die Anonymität ihrer eigenen Unterkunft eintreten, ohne ghettoisiert zu werden. Zwischen den Appartements gibt es kleine Innenhöfe. Das ermöglicht auch ein gesellschaftliches Miteinander.
Ein anderes Beispiel ist das Projekt «VinziRast-mittendrin» in Wien. Was ist daran speziell?
Das Projekt zeigt, was Architektinnen und Architeken leisten können, wenn sie ein gesellschaftliches Thema aufgreifen. Ursprünglich protestierten Studierende gegen Kürzungen an der Universität und luden Obdachlose in die Hörsäle ein, um im Warmen übernachten zu können. Alexander Hagner war bereits zuvor ein Biedermeierhaus aufgefallen, das niemand sanieren wollte. Also kam ihm die Idee, es so instand zu setzen, dass Obdachlose und Studierende gemeinsam dort wohnen können.
Gleichzeitig kannte er einen Immobilienentwickler, der seit Jahren einer Obdachloseneinrichtung Geld spendete. Er überzeugte ihn, die Spenden in die Sanierung zu investieren. Zudem holte er das Studentenwerk und die Vinzenz-Gemeinde, die sich um Obdachlose kümmert, mit ins Boot.
Mir fällt auf, dass viele dieser Projekte ästhetisch ansprechend sind.
Obdachlose sind einer enormen Diskriminierung ausgesetzt. Die Vorurteile sind riesig. Ich glaube daran, dass Architektur mit guten Beispielen in der Öffentlichkeit mehr Akzeptanz schaffen und die Wahrnehmung verändern kann. Der Titel in der «New York Times» zum Artikel über unsere Ausstellung brachte die Sache auf den Punkt: «Why Shouldn’t Housing for the Homeless Be Beautiful?» – «Warum sollten Obdachlosen-Unterkünfte nicht schön sein dürfen?».
Das Gespräch führte Karin Salm.