Julia Tobler liegt ruhig auf der Wasseroberfläche, lässt sich vom Wellengang bewegen. Nach einem letzten tiefen Atemzug taucht sie kopfüber ins Meer. Nach wenigen Metern gerät ihr Körper in den freien Fall.
Es ist, als würde sie dem Zürcher Grossmünsterturm entlang in die Tiefe gleiten: Jene 62 Meter sind für Julia Tobler aktuell der Rekord in der Disziplin «Freitauchen mit konstantem Gewicht mit Flossen».
Unten angekommen beginnt der anstrengende Teil des Tauchgangs: Tobler muss gegen die Schwerkraft anschwimmen, zurück an die Oberfläche. Und das alles in einer einzigen Atempause.
Sinnsuche in der Stille
Apnoetauchen ist ein gefährlicher Extremsport, der seit Jahren boomt. Zum einen reizt der Adrenalinkick, mehr noch aber scheint der freie Fall Menschen in die Tiefe zu locken. Auch Julia Tobler schwärmt von einem Zustand, den sie «Flow» nennt: «Es ist ein Zustand des puren Seins, in dem sich alles perfekt anfühlt.»
In der Stille der Tiefe erlebe Tobler Frieden und ein Gefühl von Verbundenheit: «Das hat mein Leben verändert». Für ihre Passion ist die Zürcherin ans Rote Meer gezogen. Dort ist sie Yogalehrerin geworden und begleitet Menschen als Tauchlehrerin. «Tauchen ist für mich weit mehr als ein Sport», sagt Tobler.
Tauchen als Lebenskunst
Dass Freediving die Aura einer Lebensphilosophie hat, passt zu anderen Erkenntnisbewegungen, die derzeit beliebt sind. Ayauhasca-Zeremonien oder «Ecstatic Dance» zu Trommelmusik: Das aktuell grosse Angebot spiegelt, wie sehr sich viele Menschen wünschen, aus der Alltagsmühle auszusteigen und mehr «bei sich» und im Körper anzukommen.
Der Apnoetauchgang ist in dieser Hinsicht ein ideales Lernfeld. Er gelingt nämlich tatsächlich nur dann, wenn man körperlich und mental loslassen und sich auf den gegenwärtigen Moment fokussieren kann. Beim Sturz in die Tiefe ist die meditative Haltung lebenswichtig. Wer den Dreh raus hat, gewinnt Körperbewusstsein und tiefe Selbsterkenntnis.
«Tauchen bringt Menschen dazu, dem Alltag zu entfliehen», sagt Julia Tobler, «die Suche nach Ruhe, und der Wunsch, sich selbst zu entdecken, können regelrecht süchtig machen. Man taucht tief ins Wasser – und dafür muss man erst tief in sich selbst tauchen. Man trainiert, loszulassen».
Die Atmung ist der Schlüssel
Wer mit dem Gesicht im Wasser liegt, hält unwillkürlich den Atem an. Das Wasser löst im Körper den «Tauchreflex» aus. Sofort wird auch das parasympathische Nervensystem aktiviert und dadurch der Herzschlag verlangsamt. Diesen Prozess unterstützen Taucherinnen und Taucher im Vorfeld mittels Atemtraining.
Die Atmung ist eine Art Geheimwaffe: Als einziges Element des vegetativen Nervensystems lässt sie sich bewusst verändern. Dass für den Tauchgang möglichst viel Sauerstoff gebunkert werden muss, ist allerdings ein Irrglaube.
Es ist eher das Gegenteil der Fall: Der Körper muss darauf trainiert werden, eine hohe Toleranz für Kohlenstoffdioxid aufzubauen. Die Konzentration des körpereigenen Gases nimmt in der Atempause zu.
Kohlenstoffdioxid kann schädlich sein, hat im richtigen Mass aber auch positive Eigenschaften. Beispielsweise kann es entspannend wirken. Für Freitaucherinnen und Freitaucher, dutzende Meter unter Wasser, ist das lebenswichtig.