Die Medienberichte überschlugen sich, als die US-amerikanische TikTokerin Olivia Maher ihr «Girl Dinner» als Mahlzeit propagierte und das Video viral ging.
Während die «New York Times», der «Guardian» und die «Washington Post» das vermeintlich neue kulinarische Phänomen aufschlüsselten, schrien deutschsprachige Medien: Quatsch mit Sosse! Amerikaner «erfinden» eine Mahlzeit, die wir seit Jahrzehnten kennen – die Brotzeit, die Brettljause, das Smørrebrød.
Für alle, die bis anhin Tomaten auf den Augen hatten: Das «Girl Dinner» ist ein Abendessen, das aus Snacks besteht. Das unabhängige, moderne «Girl» greift in den Kühlschrank, isst Reste, bekocht niemanden.
Es geniesst eine kalte Platte mit Brot, Käse, Aufschnitt, Trauben – nur für sich selbst. Unkompliziert und befreiend, so die Argumentation der «Girl Dinner»-Fans.
Der Café complet entkräftete das traditionelle Rollenbild der Frau am Herd.
Wir Schweizerinnen könnten auch unseren Senf dazugeben. Im Kern ist das «Girl Dinner» unser «Café complet». Sozusagen das Znacht, mit dem unsere Eltern aufgewachsen sind. Doch woher kommt es?
Ursprung in den Bergen
Das allererste Mal wird der Café complet in den 1870er-Jahren in Hotelanzeigen erwähnt. Hoteliers aus dem Berner Oberland, der Inner- und Westschweiz warben damit um Touristen.
«Es waren oft Hotels in den Bergen, die dem müden Wanderer ein aufmunterndes Abendessen versprochen haben», erklärt Dominik Flammer. Er forscht seit 30 Jahren zur Geschichte von Lebensmitteln und Nahrungstraditionen und hat mehrere Bücher verfasst.
In seiner Original-Version gehörte zum Café complet: Brot, Butter, Marmelade, Honig, Käse und ein sehr dünner Milchkaffee. Die Romands servierten auch noch Süssspeisen dazu, etwa Beignets oder Apfelküechli. Der Aufschnitt kam erst später.
Kaffee statt Schnaps
Auf seinem Vormarsch durch Schweizer Küchen erhielt der Café complet Zuspruch aus einem unerwarteten Lager – von der Abstinenz-Bewegung. Sie machten sich für den Hauptbestandteil des Café complet stark: den Kaffee.
«Damals herrschte in der Schweiz eine Schnaps-Pest», erklärt Ernährungsforscher Dominik Flammer. Vereine wie das Blaue Kreuz oder der «Frauenverein für Mässigkeit und Volkswohl», heute Zürcher Frauenverein, propagierten den Kaffee am Abend, um den Schnaps aus den Köpfen zu bringen.
«Man wollte die Männer umerziehen. Das war einer der Hauptgründe, warum der Café complet sich langsam durchsetzte», so Flammer.
Café complet? Très chic!
Eine aufkommende Lieblingsmahlzeit braucht einen passenden Namen. Woher aber kommt der? Das weiss niemand so genau. Womöglich, weil man nach einem Café complet satt war. Protein, Fett und Kohlenhydraten sei Dank?
Dominik Flammer sagt, der Name sei vor allem eins gewesen: en vogue. «In den 1870er-Jahren war es modern, dass alles Französisch klang.» Es war die Zeit, als auch die «Mille-Feuilles» und die «Éclairs» in die Patisserien kamen. Die Menükarten der Schweizer Restaurants hatten plötzlich französische Namen. «Man wollte international wirken und hat die Anlehnung an Frankreich gesucht. Das gilt auch für den Café complet», erklärt Flammer.
Luxusznacht wird erschwinglich
International hiess aber auch teuer. Anfänglich war der Café complet ein Luxusmahl – vor allem wegen des Kaffees. Der kam über Oberitalien und Frankreich hierher und war den Gutbetuchten vorbehalten.
Dann passierte, was man von anderen Lebensmitteln kennt: Die unteren Milieus wollte, was die oberen Milieus liebten. Kaffee wurde mehr nachgefragt, mehr produziert. Die Preise fielen.
Ausserdem haben sich mit der Industrialisierung die Löhne und die wirtschaftliche Situation vieler Menschen verbessert. Man konnte sich solche Produkte leisten.
Ein emanzipatorisches Mahl
Auf dem Zenit seiner Beliebtheit war der Café complet nach dem Zweiten Weltkrieg. Das kalte Abendessen wurde zur Gewohnheit, allen voran aus praktischen Gründen. Immer mehr Frauen arbeiteten, waren den ganzen Tag unterwegs und wollten abends nicht mehr üppig kochen.
«Der Café complet entkräftete das traditionelle Rollenbild der Frau am Herd. Es ist eines der ersten Abendessen, das zur Emanzipation beigetragen hat», analysiert Dominik Flammer.
So schafft es der Café complet sogar als Menüvorschlag für einfache Abendessen in die 1966-Ausgabe des berühmen Elisabeth-Fülscher-Kochbuchs.
Eigentlich predigte Elisabeth Fülscher aufwändige Menüs. Das Café complet musste so stark dem Zeitgeist entsprochen haben, dass Fülscher es nicht ignorieren konnte.
Vom Sattmacher zum Dickmacher
In den 1970er- und 80er-Jahren flammten die Diskussionen um gesunde Ernährung auf. Fachleute mahnten, dass wir nicht mehr 5000 Kalorien am Tag brauchten. Die meisten arbeiteten nicht mehr körperlich in Fabriken oder auf dem Acker.
Der Café complet wurde zum Dorn im Auge der Medizinerinnen. Es sei zu unausgewogen, müsse mit Gemüse und Früchten ergänzt werden. Der hochgelobte Sattmacher war fortan ein Dickmacher.
«Der Ruf nach leichterer Kost und mehr mediterraner Küche war matchentscheidend, dass der Café complet langsam verschwand», so Flammer. Plötzlich kamen Beutelsalate und Fertigsalatsaucen auf, mit denen man ruckzuck ein Znacht auf den Tisch brachte.
Comeback mit Gurke?
Das Comeback des Café complet auf TikTok – wenn auch unter anderem Namen – könnte ein Anlass sein, zeitgemässe Varianten des Klassikers auszuprobieren.
Das schlägt Betty Bossis kulinarische Beraterin Bettina Bernhardsgrütter vor. Ihre leichte Sommervariante besteht aus einer Scheibe Brot, Hüttenkäse, Radieschen und Gurken.
Klingt nach einem hitverdächtigen Schweizer «Girl Dinner».