Donnerstagabend in der Basler «Markthalle». Rund 30 Personen zwischen Mitte 20 und Ende 60 unterhalten sich an einem langen Tisch. Sie alle haben gemeinsam, dass sie polyamore Beziehungen führen, also mehrere Menschen gleichzeitig lieben.
Es ist meine Neugier, die mich an den Basler Poly-Stammtisch führt. Ich möchte wissen, wie es sich als nicht-monogamer Mensch lebt. Auch wenn in meinem Bekanntenkreis einige Personen offene Beziehungen führen: Der Grossteil der Bevölkerung hält der klassischen Zweierbeziehung die Treue.
Dazu kommt, dass das Öffnen von Beziehungen missglücken kann. Davon weiss der Paartherapeut Andreas Saladin zu berichten. Er lebt selbst nicht polyamor, besucht den Stammtisch aber regelmässig.
In Poly-Beziehungen sei eine offene Kommunikation zentral, das helfe dem Vertrauen. Die Facetten dieser Kommunikation würden ihn faszinieren.
Offene Beziehungen können scheitern
Den Weg in Saladins Praxis finden fast ausschliesslich Paare, die mit ihrer monogamen Beziehung unglücklich sind. Teilweise versuchen sie dem abzuhelfen, indem sie ihre Beziehung öffnen. Das gelingt nicht immer.
In einem Fall habe die Frau etwa aus Sicht des Partners zu viel Zeit mit dem anderen Mann verbracht. Beim Partner habe das eine psychische Krise ausgelöst.
Kein ermutigendes Beispiel, doch Saladin betont, dass es auf die Rahmenbedingungen ankomme. «Der Mensch hat sowohl das Bedürfnis nach Freiheit wie nach Bindung. Polyamorie ist eine Haltung, die beide Bedürfnisse nicht als Widerspruch betrachtet, sondern gleichermassen ins Leben integrieren will.»
Als Jugendliche fand ich seltsam, wie viele Liebesgeschichten von Eifersucht handeln.
Louis* hat einen Weg gefunden, beides zu vereinen. Der 31-Jährige hat zwei Partnerinnen, die beide noch weitere Partner haben. Zuvor lebte er in einer monogamen Beziehung, in der er viel Eifersucht erlebte. Ein Gefühl, das ihm schon immer fremd gewesen sei, wie er am Stammtisch erzählt.
Der 35-jährigen Martina* geht es ähnlich: «Als Jugendliche fand ich es seltsam, wie viele Liebesgeschichten von Eifersucht handeln», erzählt sie. Momentan führt sie mit ihrem Partner eine offene Beziehung, die sie in Richtung Polyamorie entwickeln wollen.
Verharmloste Eifersucht
Für die Aktivistinnen und Aktivisten von «bunt_lieben» ist die Verharmlosung von Eifersucht ein Merkmal der sogenannten «toxischen Monogamie». Der Verein setzt sich für die Vielfalt von Beziehungen sowie romantischen und sexuellen Identitäten ein.
Die Organisation kritisiert, dass die Zweierbeziehung – idealerweise ein Leben lang – vielerorts noch immer als einzig richtige Beziehungsform gelte. Teils verbunden mit der Vorstellung, Eifersucht sei ein Zeichen von Liebe.
«Toxisch monogame Vorstellungen projizieren unglaublich viel auf eine Person», erklärt Vorstandsmitglied Jonas im Zoom-Gespräch. Schliesslich würden zwei Leben selten über Jahrzehnte parallel verlaufen. Das könne für Unzufriedenheit sorgen. Die werde jedoch dadurch rationalisiert, dass man für eine Beziehung eben Opfer bringen müsse.
Gesellschaft ist auf Monogamie ausgerichtet
«Andere Beziehungsformen gelten dagegen als weniger seriös», ergänzt Reyhana, Aktivmitglied bei «bunt_lieben». Sie bezeichnet sich wie Jonas als Beziehungsanarchistin, möchte also frei von allen Beziehungskonventionen leben.
Dass an Reyhanas Beobachtung etwas dran ist, beweist sich mir am Poly-Stammtisch: Die meisten Teilnehmer möchten ihren Namen nicht im Internet lesen. Viele berichten, dass ihre Familie ihre Lebensform nicht akzeptieren würde oder bloss als Phase bezeichne.
Die Gesellschaft sei weiterhin stark auf Monogamie ausgerichtet, kritisiert Jonas. Das zeige sich etwa daran, dass man für ein Kind nicht mehr als zwei Elternteile eintragen lassen könne. Auch sonst gebe es für polyamor lebende Menschen wenig rechtliche Absicherungen.
Mehr als eine Zeiterscheinung
Dabei sind alternative Beziehungsformen keine Zeiterscheinung. Das beweist der Fall der 67-jährigen Martha*. Die Seniorin lebt seit mehr als 30 Jahren polyamor, «noch bevor es das Wort gab», sagt sie.
Dass es sie nicht exklusiv gebe, habe bei Männern früher für Unverständnis gesorgt. Inzwischen habe sich das aber zum Glück gebessert. Das gebe ihr die Hoffnung, dass nicht-monogame Beziehungen in Zukunft verbreiteter würden.
Damit könnte sie recht behalten: Laut einer Sotomo-Studie glauben 61 Prozent der 18- bis 25-Jährigen, dass nicht-monogame Beziehungsformen in Zukunft normal und akzeptiert sein werden.