Am 21. Dezember 2022 wurde am Zürcher Escher-Wyss-Platz ein damals fast sechsjähriger Junge auf dem Weg in den Kindergarten von einem Lkw überfahren. Die Mutter des Jungen, die Philosophin Susanne Schmetkamp, hat davor schon einmal ein Kind verloren. Philosophin und «Sternstunden»-Moderatorin Barbara Bleisch hat mit ihr gesprochen und gefragt: Wie denkt sie heute über den Tod, die Trauer und das Leben?
SRF: 1 3⁄4 Jahre ist es her, dass Ihr Sohn Tony überfahren wurde. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Tag?
Susanne Schmetkamp: Das ist kaum zu beschreiben. Es war traumatisch. Ich war bei einem Arzttermin und erhielt einen Anruf, dass Tony einen schweren Unfall hatte. Ich erinnere mich, dass ich sofort losgeschrien habe. Ich habe gespürt, dass etwas Schlimmes passiert ist und bin zum Unfallort gerannt.
Waren Menschen vor Ort, die sich um Sie gekümmert haben?
Ja, aber ich war ausser mir. In meiner Erinnerung habe ich wohl anderthalb Stunden nur geschrien. Es war sehr kalt, aber mir war viel zu heiss, ich habe den Mantel und den Rucksack abgeworfen, agierte wie ein wildes Tier.
Ein Muttertier.
Dem ein Teil des Herzens aus dem Leib gerissen wird. Ja.
Haben Menschen versucht, Sie zu beruhigen?
Ich erinnere mich an eine Psychologin, die auf mich eingeredet hat, aber das konnte ich überhaupt nicht ertragen. Hilfreicher waren Freundinnen und Nachbarn, mein Lebensgefährte. Und ein Polizist, der mich einfach nur festgehalten und nicht versucht hat, mich zu beschwichtigen – das drang eher zu mir durch als Worte.
Wie oft denken Sie an diesen Tag zurück?
Sehr oft. Häufig stösst mir die Erinnerung aber eher zu, vor allem morgens oder auf der Strasse, wenn ich im Verkehr unterwegs bin. Die Bilder verfolgen mich und ich kann sie schwer abschütteln.
Gibt es Tage, an denen Sie sich fragen: Was wäre, wenn?
Ja, fast täglich. Oft drehe ich in Gedanken die Zeit zurück und stelle mir vor, wie ich alles durch einen kleinen Handgriff abwenden kann.
Ein bisschen wie magisches Denken?
Ja. Magisches Denken kann manchmal hilfreich sein. Es gibt einem das Gefühl, den Gang der Dinge beeinflussen zu können, zum Beispiel, indem wir jemandem die Daumen drücken, der gerade Glück braucht. Wenn etwas Schreckliches geschieht, kann uns dieses magische Denken aber auch quälen. Man fragt sich vielleicht: Gab es Vorzeichen? Habe ich etwas übersehen?
Bei einem plötzlichen Tod kommt der Verstand nicht hinterher.
Das magische Denken ist wohl der hilflose Versuch, der Ohnmacht etwas entgegenzusetzen, indem man versucht, an dem einen oder anderen Rädchen zu drehen oder eine konkrete Schuld auszumachen, auch bei sich selbst. Dies kann bis zu «falschen Gedanken», die man vermeintlich hatte, reichen – das ist gefährlich.
Ist die Trauer um Ihren Sohn im Lauf der Zeit milder geworden?
Sie ist immer noch sehr intensiv. Eigentlich mag ich nicht einmal sagen «immer noch», denn es kann sein, dass das immer so bleibt. Ich bin vielleicht nicht mehr ganz so verzweifelt, kann wieder arbeiten und die Aufmerksamkeit auf anderes richten. Meine anderen Kinder, mein Partner, Familie, Freunde brauchen mich auch und geben mir umgekehrt Kraft.
Sie sagen von sich selbst, Sie haben eine Trauerbiografie. Ihr Vater starb, als Sie 13 waren, ein Freund nahm sich in seinen Zwanzigern das Leben, Ihr zweites Kind ist unvorhergesehen einen Tag nach seiner Geburt gestorben, und kürzlich ist Ihr engster Freund und früherer Lebenspartner an einem Herzinfarkt gestorben. Lassen sich Todesfälle vergleichen?
Jeder Tod und jede Trauer sind anders. Man sagt manchmal, eigene Kinder zu verlieren, sei am schlimmsten, so erlebe ich es auch. Ich denke, das hat zu tun mit der bedingungslosen Liebe, die wir unseren Kindern entgegenbringen. Und mit unserer Fürsorgeverantwortung. Wir sind nicht nur erschüttert als jene, die einen Verlust erfahren, sondern auch als die, die nicht in der Lage waren, ihr Kind zu schützen – das rüttelt an unserer Identität. Da kommen auch Scham- und Schuldgefühle auf. Und als Mutter fühlt es sich fast an wie eine Geburt mit umgekehrten Vorzeichen: als würde einem das Kind, mit dem man leiblich verbunden war, erneut aus dem Leib geholt. Aber nicht um zu leben, sondern um zu sterben.
Die Schuldgefühle, die Sie erwähnen, sind bei einem Unfall vermutlich stärker als wenn ein Kind schwer erkrankt?
Das ist sicher von Fall zu Fall verschieden. Ein Unterschied ist sicher, ob man Zeit hat, sich zu verabschieden und gemeinsam eine Art «Transit» durchläuft.
War es so bei Ihrem anderen Sohn? Er starb vor knapp elf Jahren, unter der Geburt war die Nabelschnur gerissen, er hat einen Tag gelebt.
Auch das war völlig unerwartet, aber wir konnten ihn in einer geborgenen Umgebung im Kinderspital in den Tod begleiten – wir hatten trotz allen Schreckens magische Momente mit ihm, voller Liebe, Frieden und Dankbarkeit. Aber auch damals fragte ich mich lange, was ich als Mutter falsch gemacht hatte.
Wir sagen oft, wenn ein geliebter Mensch stirbt, bleibe die Zeit stehen.
Ja, das ist eine paradoxe Erfahrung. Man weiss ja, dass das Leben weiter geht. Aber gerade bei einem plötzlichen Tod kommt der Verstand nicht hinterher: Man lebt wie in verschiedenen Zeiten und Wirklichkeiten: In einer, in der das Leben seinen Gang nimmt, und in einer, in der der Verstorbene gerade noch da war, aber nun nicht mehr da sein soll – es ist ein Stillstand, weil etwas radikal unterbrochen wird. Dieser Stillstand kann auch mit Ruhe einhergehen oder mit einem Gefühl der Verlorenheit.
Ich zwinge mich nicht dazu, den Schlag zu akzeptieren.
Der Tod durchbricht oder verändert nicht nur die Beziehung zu dem Menschen, er erschüttert das ganze Selbst- und Weltverhältnis der nächsten Hinterbliebenen – es muss sich alles neu orientieren und integrieren. Ich finde wichtig, dass diesen verschiedenen Zeit- und Wirklichkeitserfahrungen Raum gegeben wird.
Was meinen Sie damit?
Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami schreibt immer wieder von verschiedenen Wirklichkeiten, zu denen wir Zugang haben, ob sie nun real sind oder Vorstellungen unseres Bewusstseins. Auch Erinnerungen haben ja ihre Wirklichkeit. Vielleicht sind die «Schatten» der Erinnerung, die ich manchmal zu sehen glaube, im Moment realer als die Wirklichkeit – ich finde es als Philosophin und auch als Mutter wichtig, solche Erfahrungen zu beobachten, ohne sie zu bewerten, sie aber in ihrem eigenen Sinn anzuerkennen.
Wir haben es mit vielen Paradoxien in der Trauer zu tun, und diese müssen nicht gleich pathologisch sein oder überwunden werden. Trauer ist hart, chaotisch, fordernd, und sie braucht ihre eigene Zeit. Auch die Anerkennung des tiefen Schmerzes gehört für mich dazu.
Ich stelle mir vor, dass man über solche Einbrüche des Schicksals nicht hinwegkommen kann. Sondern nur, wenn überhaupt, mit ihnen zurechtkommen.
Das ist eine gute Formulierung, «mit ihnen zurechtkommen». Ich zwinge mich nicht dazu, den Schlag zu akzeptieren. Ich kann das nicht akzeptieren. Was ich akzeptieren kann, ist nur, dass ich es nicht begreifen kann. Der Tod von Tony vor dem Hintergrund meiner vorherigen Todeserfahrungen sprengt mein Fassungsvermögen.
Wollen Sie damit sagen: Sie erheben sich gegen diese schreiende Ungerechtigkeit, dass Ihnen zwei Ihrer Kinder genommen wurden?
Ich weiss nicht, ob es ungerecht ist. Es gibt ja in Kriegs- und Krisengebieten noch schlimmere Schicksale. Aber schon als unser Sohn Karlo starb, dachte ich, das kann einfach nicht sein. Ich habe doch schon genug erlebt, als gäbe es so etwas wie ein gerechtes Mass. Danach war ich lange schreckhaft. Im Strassenverkehr habe ich oft hysterisch reagiert, wenn ein Auto nicht abbremste und ich meine Kinder dabeihatte. Ich beruhigte mich dann: Uns würde doch nicht noch einmal ein Kind sterben. Genau so ist es aber gekommen – das ist für uns alle unfassbar.
Sie haben fünf Kinder geboren. Zwei davon sind gestorben. Würden Sie nach wie vor sagen, Sie sind Mutter von fünf Kindern?
Ja, natürlich. Wir bleiben ja auch Kinder unserer Eltern, auch wenn diese verstorben sind. Mit dieser Frage sind alle Eltern konfrontiert, die ein Kind verlieren, und es ist sicherlich sehr unterschiedlich, wie man damit umgeht. Ob ich es auch immer so mitteile, entscheide ich situativ danach, wer mein Gegenüber ist – manchmal muss man sich selbst, manchmal andere schützen.
Es herrscht Unsicherheit darüber, wie über den Verlust der eigenen Kinder gesprochen werden kann.
Manchmal ist Ehrlichkeit wichtig, auch um zu enttabuisieren. Es gibt so viele Eltern, die in dem ein oder anderen Stadium der Schwangerschaft, nach der Geburt oder später durch Krankheit oder Unfall ein Kind verloren haben, aber es herrscht Unsicherheit, wie darüber gesprochen werden kann. Auch das verursacht bei vielen Leid.
Hilft der Austausch mit anderen Trauernden?
Nach Karlos Tod auf jeden Fall. Ich habe damals einen Rückbildungskurs besucht für Mütter, deren Kind in oder nach der Schwangerschaft gestorben ist. Wir konnten uns gegenseitig stützen, fühlten uns nicht so allein. Nach Tonys Tod war es anders. Ich brauchte erst einmal Abstand, Konzentration auf mich, die Kinder, die Familie. Ich brauchte das «Alleinsein», wollte nicht Teil einer «Gruppe» sein. Wir hatten und haben zudem enorme Unterstützung durch Freundinnen und Freunde, unsere und andere Familien, die Schule, die Stadt. Wenn Menschen Kerzen oder Blumen an den Unfallort stellen, bin ich berührt.
Sie sind Assistenzprofessorin für Philosophie an der Universität Fribourg und arbeiten an einem Projekt zum Thema Aufmerksamkeit. Hilft die Aufmerksamkeit in der Trauer?
Vielleicht in diesem Sinne: Empathische Aufmerksamkeit durch andere, für andere und für einen selbst, achtsam und geduldig mit sich und anderen umgehen, sich auch der Trigger, die überall lauern, bewusst und transparent sein. Eine solche Aufmerksamkeit ist verbunden mit einer Distanzierung vom eigenen Ego und den eigenen Vorurteilen hin zu dem, was mein Gegenüber «wirklich» ist, was er oder sie erlitten oder zu erzählen hat. Daher noch einmal: Jede Trauer und jeder Schmerz sind individuell – haben wir den Mut, hinzuhören, wie es ist, statt nur darüber zu reden, wie es besser sein kann.
An der Trauerfeier im Alten Krematorium Sihlfeld haben Sie eine beeindruckende Rede gehalten, in der Sie von Ihrem lebenslustigen Sohn erzählt haben. Woher haben Sie die Kraft genommen, so lebendig und vor so vielen Menschen zu sprechen?
Das geschah aus meinem Gefühl der Verantwortung und tiefen Liebe für meinen Sohn. Ich wollte mit und für ihn und für alle Anwesenden ein lebendiges, farbiges Bild von ihm entstehen lassen. Es war auch eine Form von «letztem Geleit», zu dem bei der Feier ja noch viele andere, darunter seine Geschwister und enge Freunde, mit Musik und Reden beigetragen haben. Und dann war es vielleicht auch eine Form des Aufbegehrens.
Wie meinen Sie das?
Jeder Tod ist erst einmal auch eine Demütigung. Wir werden von einer ultimativen Macht existentiell in die Knie gezwungen, dann fühlen wir uns erst einmal als Opfer. Ich möchte diesem Gefühl nicht ausweichen. Aber wir sagen doch auch: «Die Liebe ist stärker als der Tod». Mit dieser Gewissheit können wir auch Kraft haben, unser durch Demütigung gesenktes Haupt wieder aufzurichten und zu Akteurinnen werden. Aber auch so etwas braucht Zeit, und es gibt in der Trauer immer wieder Phasen, in der ein solches «Aufrichten» nicht geht.
Das Gespräch führte Barbara Bleisch.