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Umgang mit Verlustängsten Ist Verlust die neue Realität in einer sich wandelnden Welt?

Das Klima wandelt sich, auch das gesellschaftliche. Immer mehr Menschen werden von Verlustängsten geprägt. Welchen Einfluss haben sie auf unseren Glauben an den Fortschritt?

Spätestens wenn man den Median des Lebens überschritten hat – also zurzeit mit zirka 40 Jahren – winkt am Horizont jene Ratgeberliteratur, die einen auf den Umgang mit Verlust vorbereiten soll.

Es sei ratsam, möglichst früh damit zu beginnen, sich nicht zu fest an Menschen und Dinge zu binden, da dies alles nur Liaisons auf Zeit seien. Manche bleiben einem länger erhalten, sei es aus Liebe oder aus Gewohnheit, andere werden einem früher genommen.

Illustration einer Person mit Fernglas vor Sternenhimmel.
Legende: Der vorfreudige Blick in die Zukunft sei unserer Gesellschaft abhandengekommen, sagt Soziologe Andreas Reckwitz. Getty Images/GeorgePeters

Gleichzeitig scheint es nicht wenige Menschen auch jenseits der 40 zu geben, die sich gerne mit schönen und kostbaren Dingen umgeben, um die ihnen verbleibende Zeit möglichst angenehm zu gestalten: Häuser, Autos, HiFi-Anlagen, Küchengeräte, teure Kleider, extravagante Schuhe. Oder sie geben ihr Geld für «Intangible Goods» aus: Essengehen, Wellness, Skifahren, Urlaub.

Verlust gehört zum Leben dazu

Diesen Carpe diem-Moment gibt es auch im makroökonomischen Bereich. Denn wir alle sind zwar Individuen, aber als solche auch Teil der Gesellschaft. Und wenn die Gesellschaft lieber «Carpe diem» betreibt, statt froh in die Zukunft zu blicken, dann haben wir ein Problem, sagt der Soziologe Andreas Reckwitz.

«Der Gesellschaft ist der Fortschrittsglaube abhandengekommen, nämlich dass die Zukunft besser wird als die Gegenwart, welche schon besser ist als die Vergangenheit.»

Andreas Reckwitz

Soziologe

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Andreas Reckwitz ist ein deutscher Soziologe und Kulturwissenschaftler. Er lehrt Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Autor zahlreicher Sachbücher, die in über 20 Sprachen übersetzt wurden.

In Büchern wie «Die Gesellschaft der Singularitäten» oder «Das Ende der Illusionen» analysiert er die spätmoderne Gesellschaft und zeigt, wie sich Wirtschaft, Politik, Kultur und Lebensstil seit den 70er-Jahren radikal gewandelt haben. 2019 erhielt Andreas Reckwitz den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Sein neustes Buch «Verlust. Ein Grundproblem der Moderne» wird vom Feuilleton gefeiert.

Wir müssen also lernen loszulassen – wir als Individuen, aber auch das Kollektiv von Individuen, die Gesellschaft. Und eigentlich tun wir das laufend, denn eine moderne westliche Gesellschaft sei geprägt durch eine «Verlustpotenzierung», so Reckwitz, durch «eine Überbietung gegenwärtiger Strukturen durch ‹Neues›, welche das Gegebene als ‹alt› entwertet.»

Doch nun, da sich negative gesellschaftliche Zukunftserwartungen in vielen westlichen Ländern schon länger verfestigt hätten, verändere sich auch der Umgang der Gesellschaft mit Verlusten.

Verklärte Vergangenheit

Der Aufstieg des Populismus, der Protest und die Wut von Fortschrittsverlierern, die Auswirkungen des Klimawandels: All dies führe zu einer Erosion der liberalen Weltordnung, die «bei weitem nicht so stabil ist, wie wir das noch vor einigen Jahren geglaubt haben», sagt Reckwitz. Es sei nicht nur etwas, was man in den Zeitungen liest.

«Das Sicherheitsgefühl hat abgenommen, die Expansion der westlichen Ordnung hat sich erschöpft.» Um es mit einem Titel der Band R.E.M. aus den 1980er-Jahren zu sagen: «It’s the End of the World as We Know It». Doch was machen wir nun mit dieser nicht eben freudigen Diagnose?

«Wenn etwas verloren geht oder einem abhandenkommt, kann man trauern oder wütend werden, ohne dass jemand Schuld an diesem Verlust hat», so Reckwitz. Es könne auch einfach eine strukturelle Entwicklung sein, oder dass die Welt vernetzter wird, dass Arbeitsplätze verlagert und Arbeitnehmende nicht mehr gebraucht würden.

Doch der Populismus, so Reckwitz, arbeite mit einem Täter-Opfer-Prinzip. Deshalb brauche es Schuldige, die dafür verantwortlich gemacht werden können, dass die Welt so ist, wie sie ist. Und das sei in der Sprechweise von Populisten «die liberale Elite».

Das funktioniere zurzeit sehr gut, so Reckwitz. «Wenn man nicht mehr an die Zukunft glaubt, dann glorifiziert man die Vergangenheit, die es aber so vielleicht gar nicht gab.»

Nur dunkle Wolken am Horizont?

Eine alternative, positive Vision, wie eine Zukunft aussehen könnte, habe der Populismus nur insofern, als er eine vermeintlich glorreiche Vergangenheit wieder aufleben lassen möchte. Immerhin wissen wir nicht, was kommt, können keine Sekunde in die Zukunft schauen, und ob sich die Geschichte wiederholt, wissen wir auch nicht.

Ich bin geprägt von einem generellen Glauben daran, dass alles immer besser wird.
Autor: Andreas Reckwitz Soziologe

«Ich würde schon sagen, dass sich der gesellschaftliche Horizont in den letzten Jahren verdüstert hat», sagt Reckwitz. Es gebe eine Art Verlustkonkurrenz darum, wer verliere und wer gewinne. Und verzichten und verlieren tue niemand gerne. Reckwitz sieht darin eine neue, noch nicht dagewesene Entwicklung für die Moderne.

Es ist also das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Doch das Lied geht weiter: «And I feel fine», singen R.E.M. im Refrain. Und wie bekommen wir das hin? «Ich bin ‹Generation Mauerfall›, geprägt von Globalisierung, Demokratisierung, Digitalisierung und einem generellen Glauben daran, dass alles immer besser wird», sagt Reckwitz dazu.

Alles wird anders – und vielleicht auch besser

Der Mensch habe die Chance, die Moderne zu reparieren. Die Fortschrittserzählung, die die westliche Welt lange dominierte, der endlose Prozess der Überbietung in Richtung des Immer-noch-Besseren werde seit längerem infrage gestellt, erklärt Reckwitz.

Buchhinweis

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Andreas Reckwitz: «Verlust. Ein Grundproblem der Moderne», 463 Seiten, Suhrkamp, 2024.

Anerkennung von Verletzlichkeit, Resilienz und Klugheit seien nun gefragt. Im Privaten, wo die Selbstverwirklichungskultur Einzug gehalten hätte, könnten diese viele bereits sehr gut. Sie lernen, dass Verletzlichkeit und Stärke zusammengehören. Nun geht es darum, dieses Verständnis auch auf die Gesellschaft zu übertragen.

Gesellschaften sollten Verluste nicht verdrängen, sondern offen anerkennen, dass sie Teil des Lebens sind. Gleichzeitig können sie Resilienz aufbauen, indem sie soziale Netzwerke stärken, flexibler mit Krisen umgehen und alle Menschen in Entscheidungen einbeziehen. Dies schafft eine Balance zwischen Fortschritt und dem Bewahren wichtiger Werte.

SRF1, Sternstunde Philosophie, 12.1.2025, 11:00 Uhr

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